Vorbild Kiefernzapfen: Mit diesem System verschatten sich Gebäude selbst − ohne Strom

Öffnung der selbstformenden Elemente außen
Foto: ICD/IntCDC Universität Stuttgart

Kiefernzapfen als Vorbild: Forscher der Universitäten Stuttgart und Freiburg haben ein neues, energieautarkes Verschattungssystem entwickelt, das von der Natur inspiriert wurde. Die Beschattungselemente passen sich selbstständig an das Wetter an, öffnen und schließen sich automatisch − und das gänzlich ohne Strom!

In diesem Beitrag:

  1. Verschattungssystem ohne Strom: Kiefernzapfen machen vor, wie's geht
  2. Bioinspirierter 4D-Druck mit Zellulose
  3. Bionik trifft Architektur: Wetteradaptive Verschattungssysteme im Einsatz

Ein Gastbeitrag
der Universitäten Stuttgart und Freiburg

Verschattungssystem ohne Strom: Kiefernzapfen machen vor, wie's geht

Mithilfe von bioinspirierten Designs, natürlichen Materialien und allgemein zugänglichen Technologien haben Forscher der Universitäten Stuttgart und Freiburg das Fassadensystem „Solar Gate“ entwickelt – das erste wetterabhängige, adaptive Verschattungssystem, das nicht auf elektrische Antriebsenergie angewiesen ist.

„Wir haben ein Verschattungssystem entwickelt, das sich abhängig von den Wetterbedingungen selbstständig öffnet und schließt, ohne dass dafür jegliche Betriebsenergie oder mechatronische Elemente benötigt werden. Die Biomaterialstruktur selbst ist die Maschine.“

Professor Achim Menges

Als Vorbild für das „Solar Gate“ dienten den Wissenschaftlern die Bewegungsmechanismen von Kiefernzapfen, die sich bei Veränderungen von Luftfeuchtigkeit und Temperatur öffnen und schließen, ohne dabei Stoffwechselenergie zu verbrauchen. Dem Team ist es gelungen, diesen Mechanismus nachzubilden. Die Forschungsergebnisse wurden in der Zeitschrift „Nature Communications“ veröffentlicht.

Von Kiefernzapfen inspiriert: Modellentwurf fürs modulare Doppelklappen-Design der neuentwickelten Fassadenbeschattungselemente
Foto: ICD/IntCDC University of Stuttgart

Die zapfenförmigen Fassadenbeschattungselemente öffnen sich automatisch
Die Beschattungselemente öffnen und schließen sich automatisch, ohne elektrische Energie zu benötigen
Foto: ICD/IntCDC Universität Stuttgart/Conné van d’Grachten

„Wetterreaktive, architektonische Fassadensysteme sind meist auf aufwendige technische Vorrichtungen angewiesen. Unsere Forschung untersucht, wie wir die Reaktionsfähigkeit des Materials selbst durch computerbasierte Planungsmethoden und additive Fertigung nutzbar machen können“, so Professor Achim Menges, Leiter des Instituts für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung (ICD) und Sprecher des Exzellenzclusters Integratives Computerbasiertes Planen und Bauen für die Architektur (IntCDC) der Universität Stuttgart.

Kiefernzapfen
Kiefernzapfen öffnen und schließen sich je nach Luftfeuchtigkeit, ohne Energie zu verbrauchen.
Foto: Pixabay/Antonios Ntoumas

Wie sich Kiefernzapfen an das Wetter anpassen

Der Bewegungsmechanismus von Kiefernzapfen ist ein Beispiel für eine passive Bewegung, die ohne Energiezufuhr von außen funktioniert. Das funktioniert, weil ihre Schuppen aus Schichten bestehen, die auf Feuchtigkeit reagieren: Die Schuppen öffnen sich bei trockener Luft und schließen sich bei feuchten Bedingungen.

So schützt der Zapfen die Samen bei Nässe und gibt sie bei Trockenheit frei. Dieser Prozess erfordert keine Stoffwechselenergie, so dass die Schuppen auch nach dem Fallen vom Baum noch funktionieren.

Dieses Video zeigt eindrucksvoll die Funktionsweise von Solar Gate

Bioinspirierter 4D-Druck mit Zellulose

Zellulose diente als Ausgangsmaterial, um die Beschattungselemente herzustellen. Zellulose ist ein natürliches, reichlich vorhandenes und erneuerbares Material, das bei Feuchtigkeitsschwankungen quillt und schrumpft. Diese Eigenschaft, die als Hygromorphie bezeichnet wird, ist in der Natur häufig zu beobachten − nicht nur beim Öffnen und Schließen der Schuppen von Kiefernzapfen, sondern beispielsweise auch bei den Blütenständen der Silberdistel.

Das Forschungsteam machte sich diese hygromorphe Eigenschaft zunutze, indem es biobasierte Zellulosefasern maßgefertigt und im 4D-Druckverfahren in eine zweischichtige Struktur brachte, die von der Schuppenstruktur des Kiefernzapfens inspiriert ist.

Die individuell hergestellten Biokomposit-Filamente werden mit dem 3D-Drucker extrudiert und strukturiert. (Bilder: ICD/IntCDC Universität Stuttgart)

Was ist 4D-Druck?

Beim 4D-Druck kommt neben den drei räumlichen noch eine vierte Dimension hinzu: die Zeit. Das bedeutet, dass die 3D-gedruckten Objekte ihre Form, ihre Eigenschaften oder Funktionalitäten im Lauf der Zeit verändern, als Reaktion auf äußere Reize. Sie passen sich dann beispielsweise selbstständig durch Falten, Biegen oder Dehnen an veränderte Umgebungen an.

Computergestützte Fertigung mittels 4D-Druck

Materialsysteme, die per 4D-Druckverfahren, einem Verfahren der additiven Fertigung, hergestellt werden, können ihre Form als Reaktion auf äußere Einflüsse selbstständig verändern. Für das „Solar Gate“ entwickelten die Forscher eine computergestützte Herstellungsmethode, um die Extrusion von Zellulosematerialien mit einem Standard-3D-Drucker zu steuern. Sie nutzt das selbstformende und reversible Verhalten von 4D-gedruckten Materialsystemen.

So arbeitet das System

  • Bei hoher Luftfeuchtigkeit nehmen die Zellulosematerialien Feuchtigkeit auf und dehnen sich aus. Die bioinspirierten, gedruckten Elemente rollen sich ein und öffnen sich.
  • Umgekehrt geben die Zellulosematerialien bei niedriger Luftfeuchtigkeit ihre Feuchtigkeit ab und ziehen sich zusammen, wodurch sich die gedruckten Elemente abflachen und schließen.
Zyklische Tests der fertigen Fenster
Foto: ICD/IntCDC Universität Stuttgart

Links: Schließung der Verschattungselemente bei den zyklischen Tests Rechts: Öffnung der Verschattungselemente

Königsweg der Bionik

„Inspiriert von den hygroskopischen Bewegungen von Kiefernzapfenschuppen und den Hochblättern der Silberdistel ist es beim „Solar Gate“ gelungen, nicht nur die hohe Funktionalität und Robustheit der biologischen Vorbilder in ein bioinspiriertes Verschattungssystem zu übertragen, sondern auch die Ästhetik der pflanzlichen Bewegungen", erläutert Professor Thomas Speck, Leiter der Plant Biomechanics Group Freiburg und Sprecher des Exzellenzclusters Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems (livMatS) der Universität Freiburg.

„Dies kann als ‚Königsweg der Bionik’ betrachtet werden, da alles, was uns am biologischen Ideengeber fasziniert, auch im bioinspirierten architektonischen Produkt realisiert wurde."

Bionik trifft Architektur: Wetteradaptive Verschattungssysteme im Einsatz

Langzeittests unter realen Wetterbedingungen
Langzeittests unter realen Wetterbedingungen
Foto: ICD/IntCDC Universität Stuttgart

Das Forschungsteam testete die Funktionalität und Haltbarkeit des bioinspirierten adaptiven Verschattungssystems über ein Jahr lang unter realen Wetterbedingungen.

Dann wurde das „Solar Gate“ an der livMatS Biomimetic Shell angebracht, einem Baudemonstrator des Exzellenzclusters IntCDC und des Exzellenzclusters livMatS, der als Forschungsgebäude der Universität Freiburg dient. Das Verschattungssystem, das an einem nach Süden ausgerichteten Dachfenster installiert ist, unterstützt die Klimaregulierung des Gebäudes: Im Winter öffnen sich die Verschattungselemente und lassen Sonnenlicht herein, so dass der Innenraum sich auf natürliche Weise erwärmt. Im Sommer schließen sie sich und minimieren die Sonneneinstrahlung. Angetrieben werden diese Prozesse ohne elektrische Energiezufuhr, allein durch tägliche und saisonale Wetterveränderungen.

Verschattungssystem mit geschlossenen Elementen, das an einem nach Süden ausgerichteten Dachfenster installiert is
„Solar Gate“ an einem Baudemonstrator der Universität Freiburg dient. Das Verschattungssystem, das an einem nach Süden ausgerichteten Dachfenster installiert ist, unterstützt die Klimaregulierung des Gebäudes.
Foto: ICD/IntCDC Universität Stuttgart/Conné van d’Grachten

Architektonische Umsetzung des selbstformenden Verschattungssystems
Foto: ICD/IntCDC University of Stuttgart

Links: Öffnung der Verschattungselemente, von außen betrachtet Rechts: Schließung der Verschattungselemente, von außen betrachtet (Bilder: ICD/IntCDC/Universität Stuttgart)

Links: Öffnung der Verschattungselemente, von innen betrachtet Rechts: Schließung der Verschattungselemente, von innen betrachtet (Bilder: ICD/IntCDC/Universität Stuttgart)

Revolutionäres Verschattungssystem für nachhaltige Architektur

Das „Solar Gate“ stellt somit eine energieautarke und ressourceneffiziente Alternative zu herkömmlichen Verschattungssystemen dar. Da für den Komfort in Innenräumen typischerweise viel Energie benötigt wird, sind Lösungen zur Verringerung des Energiebedarfs für Heizung, Kühlung und Lüftung von großer Bedeutung.

Das „Solar Gate“ unterstreicht das Potenzial zugänglicher, kostengünstiger Technologien wie der additiven Fertigung und zeigt auf, wie Zellulose als reichlich vorhandenes, erneuerbares Material zu nachhaltigen architektonischen Lösungen beitragen kann.

„Unsere Forschung hat das Ziel, die methodischen Grundlagen für die dringend notwendige, zukunftsfähige und klimapositive Transformation des Planens und Bauens zu schaffen. Digitale Technologien, ressourcenschonende Strukturen und erneuerbare Baumaterialien stehen dabei im Fokus unserer Lösungsansätze.“

Prof. Achim Menges

Projektpartner

Das „Solar Gate“ wurde gemeinsam entwickelt vom

Originalpublikation

Cheng, T., Tahouni, Y., Sahin, E.S., Ulrich, K., Lajewski, S., Bonten, C., Wood, D., Rühe, J., Speck, T., Menges, A.: 2024, Weather-responsive adaptive shading through biobased and bioinspired hygromorphic 4D-printing. Nature Communications, vol. 15, no. 1. (DOI: 10.1038/s41467-024-54808-8)

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