Calwer Passage Stuttgart − der Urwald an der Hauswand

Stadtgrün und Hightech sind beim Architekten Christoph Ingenhoven keine Gegensätze. Das zeigt eine der grünsten Bauten des Jahrzehnts: die Calwer Passage in Stuttgart.

In diesem Beitrag:

  1. Großstadtdschungel: die Calwer Passage in Stuttgart
  2. Phytotechnologie: Hightech aus der Natur
  3. Supergreen: die supergrüne Stadt
  4. Über Christoph Ingenhoven

Chris van Uffelen
Leitung Print-Redaktion CRADLE

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe No. 4 von CRADLE.

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Großstadtdschungel: die Calwer Passage in Stuttgart

Die 2023 in Stuttgart eingegliederte Calwer Passage mitsamt denkmalgeschützter Einkaufspassage (1978) bringt Dschungelflair in die Großstadt. Der Baukörper wurde vom Bewuchs schon längst erobert, die Bepflanzung rankt sich lianenartig abwärts. Doch die beeindruckende Fassade ist viel mehr als nur hübsch anzusehen: Sie vereint Phytotechnologie und Hightech.

Grüne Fassade an der Calwer Passage

Die üppig bewachsene Calwer Passage in Stuttgart erinnert mitsamt dem Dachgarten an die Hängenden Gärten der Semiramis in Babylon, eines der antiken Weltwunder. Entworfen wurde sie im Büro von Christoph Ingenhoven, der zu den Pionieren grünen und ökologischen Bauens in Deutschland gehört.

Frontansicht der Calwer Passage mit Glasfenstern und Pflanzen

Zugleich gehörte er schon immer zu den technisch innovativsten und präzisesten Architekten. Sein RWE-Tower in Essen (1991–97) gilt mit der zweischaligen Ganzglasfassade heute als erstes umweltfreundliches Hochhaus in Deutschland. Energieeinsparung war zu jener Zeit der Inbegriff von Nachhaltigkeit, und Komfort am Arbeitsplatz war in aller Munde. Doppelfassaden trennen den inneren Raumabschluss und die äußere Schutzschicht. Dazwischen bildet sich ein Puffer, der thermisch wirksam ist und selbst im Hochhaus zur manuellen Be-/Entlüftung genutzt werden kann. Doppelfassaden wurden in der Folgezeit zum Mittel der Wahl für beides, und auch einen kleinen Dachgarten gab es schon.

Heute ist die Gebäudebegrünung bei Ingenhoven zum Ausdrucksträger geworden. Und die Calwer Passage ist üppig: 11.000 Setzlinge in 2.000 Pflanztrögen an der Fassade sowie Gärten auf den Dächern. Wannen an den Fassaden und tiefe Pflanztröge auf dem Dach ermöglichen den üppigen Bewuchs, der sich vor den Fenstern lichtet.

Calwer Passage Detailansicht der Pflanzen

Phytotechnologie: Hightech aus der Natur

Unter den weichen Pflanzenschalen verbirgt sich ein harter Kern: bautechnisches Denken. Ingenhoven fordert, „nicht weniger als die neueste Technologie in Fragen ressourcenschonenden Bauens“ zu nutzen.

Phytotechnologie

verbindet Erkenntnisse des Gartenbaus, der Botanik und des Ingenieurwesens. Phytotechnologie ist Hightech. Natur tritt an die Stelle offen gezeigter Gebäudetechnik. Pflanzen ersetzen Lüftungsrohre und Membrane. Efeu und Eibe verschatten als Smart Materials, Clematis und Jungfernrebe fungieren als biologischer Luftreiniger, Winterjasmin und Purpurbeere kontrollieren die Luftfeuchtigkeit, Schwarzkiefern und Stieleichen sammeln Regenwasser – die „Gebäudemaschine“ lebt.

Hightech-Architektur

betont ihre technische Kompetenz. Konstruktive Details und technische Gebäudeausstattung fungieren als ästhetische Merkmale. Benannt nach dem Buch von Joan Kron und Suzanne Slesin: „High Tech: The Industrial Style and Source Book for The Home“, 1978.

Calwer Passage Stuttgart Vogelperspektive

Der kleine Wald auf der Calwer Passage ist nicht von allein auf dem Dach des siebten Obergeschosses gewachsen. Zudem werden seine Bäume in den nächsten Jahren zwölf Meter groß werden, was bei der Bauplanung ebenso Beachtung finden musste wie das Wurzelwerk.

Supergreen: die supergrüne Stadt

Ingenhoven nennt sein patentiertes Konzept supergreen® , wobei das typografisch hervorstechende ® auf die Affinität zum Hightech verweist. In seinem Konzept werden ortsspezifische, natürliche Ressourcen wie Wind, Licht, Erdwärme oder Niederschlag architektonisch eingebunden.

» Supergreen ist ein Konzept für Räume, in denen es sich gut leben lässt, innen und außen. «

Christoph Ingenhoven, Architekt
Grüne Fassade von unten

Natur ersetzt Gebäudetechnik

Hainbuchen kühlen den Baukörper innen und den Stadtraum außen, dienen als Dämmung gegen Hitze und der Dämpfung von Lärm, binden Kohlendioxid und Staub, produzieren Sauerstoff, kühlen die Umgebung, halten Regenwasser zurück und regulieren die Luftfeuchtigkeit. Sie bereichern das Stadtbild, erfordern aber Mehraufwand in Anlage und Unterhalt. Aber das gilt auch für Klimaanlagen, technische Belüftung und Regenwasserabfuhr, die weder die Biodiversität fördern noch psychologisch zu einer lebenswerten Stadt beitragen.

Eine Kräuterwiese, wie im sechsten Obergeschoss, ist vegetationstechnisch zwar viel einfacher zu handhaben, aber auch weniger ausdrucksstark. Der Wille zum Ausdruck, zu prägnanter Architektur, zu Baukultur ist immer fester Bestandteil von Ingenhovens Architektur.

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Dies ist ein Beitrag aus der Ausgabe No. 4 von CRADLE.
Im Magazin finden Sie den kompletten Beitrag über die beeindruckende Architektur Ingenhovens, in der wir neben der Calwer Passage auch den Kö-Bogen in Düsseldorf vorstellen. Lesen Sie über 100 Seiten zu diesen und weiteren innovativen Vorreiterprojekten zukunftsfähiger Architektur!

Top Themen dieser Ausgabe

  • Innovative Kreislaufwirtschaft
  • Lehm, Baustoff der Zukunft
  • Urbaner Holzhybridbau
  • Biologisch abbaubare Architektur

 

  • Modernes Recycling
  • Bauen mit Mondholz
  • Stadtbegrünung
  • Schwammstadt

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Über Christoph Ingenhoven

Supergrüner Architekt, * 1960
Christoph Ingenhoven organisiert seine Projektteams interdisziplinär und ist weltweit tätig. Zu den bekanntesten internationalen Werken gehören die Europäische Investitionsbank Luxemburg (2008), das 1 Bligh Street in Sydney (2011) und das Marina One in Singapur (2017), das durch seine Gebäudegeometrie Frischluft in die Stadt führt. Christoph Ingenhoven ist ein Vorreiter nachhaltiger Architektur und Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen, DGNB, sowie der Bundesstiftung Baukultur.

Christoph Ingenhoven studierte von 1978 bis 1984 Architektur an der RWTH Aachen und von 1980 bis 1981 an der Kunstakademie Düsseldorf bei Hans Hollein. 1985 gründete er sein eigenes Büro, 2000 bis 2004 mit Jürgen Overdiek als Partner. Mit dem RWE-Tower in Essen errichtete er 1991–97 das erste umweltfreundliche Hochhaus in Deutschland.

Fotos: HGEsch

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