Bosco Verticale: Waldtürme zum Wohnen
Der Bosco Verticale ist eines der beeindruckendsten Hochhäuser der Welt. Wie es dem Architekten Stefano Boeri mit seinem Team gelang, über 800 Bäume und Tausende weitere Pflanzen an seiner Fassade wachsen zu lassen, erfahren Sie hier.
In diesem Artikel:
Grün statt Grau: Der Bosco Verticale
Als der damals 50-jährige italienische Architekt Stefano Boeri mit der Planung von zwei Wohntürmen mitten in Mailand beauftragt wurde, kam ihm ein faszinierender Gedanke: Wie wäre es, die Fassade nicht aus Mineralstoffen, sondern aus lebender Natur zu gestalten?
Die beiden Wohntürme, das sind die heute weltberühmten Zwillingstürme Torre E und Torre D des Bosco Verticale. „Bosco Verticale“ ist Italienisch und bedeutet „vertikale Wälder“. Stefano Boeri entwarf die begrünten Doppeltürme zusammen mit den beiden Architekten Gianandrea Barreca und Giovanni La Varra. Es war ihr Gegenprogramm zu Stahl und Glas. „Wir wollten inmitten dieser Glastürme eine Art neues Manifest schaffen“, erklärt Stefano Boeri.
Dieses Manifest für mehr Grün in Städten ist ihnen gelungen: Auf rund 400 Terrassen wachsen 800 Bäume, 4.500 Sträucher und über 15.000 weitere Grünpflanzen und Kräuter. Insgesamt wird so eine Fläche von 1.700 Quadratmetern begrünt.
Eine clevere Idee, denn freie Flächen fehlen oft in der Stadt, aber senkrechte Flächen an Hauswänden gibt es mehr als genug.
Schon Monate vor ihrer Vollendung waren die Zwillingstürme Stadtgespräch in Mailand. Die weit auskragenden Balkone zogen alle Blicke auf sich und mehr noch, als diese Schritt für Schritt mit Bäumen, Sträuchern und Stauden bepflanzt wurden. Allein die Bepflanzung der Wohntürme dauerte über ein Jahr. Eine gestapelte Parklandschaft, mitten in Mailand.
Architektur meets Botanik
Eine der größten Schwierigkeiten beim Bau der Zwillingstürme war es, geeignete Pflanzen zu finden. Für die unterschiedlichen Höhen und Standorte auf der Fassade mussten die richtigen Bäume ausgewählt werden, die diverse Voraussetzungen erfüllen:
- Sie müssen mit wenig Platz auskommen – schließlich bieten die Pflanzgefäße auf den Balkonen viel weniger Platz zur Bewurzelung als in der freien Natur.
- Auch windfest sollten sie sein, denn die Türme sind immerhin 76 und 110 Meter hoch.
- Außerdem sollten die Pflanzen möglichst wenig anfällig für Schädlinge und Krankheiten sein und wenig Wasser benötigen, um den Pflegeaufwand gering zu halten.
- Sie sollten keine Allergien auslösen oder giftig sein.
- Und schließlich sollten sie auch hübsch aussehen, um den Bewohnern und Betrachtern zu jeder Jahreszeit einen attraktiven Anblick zu bieten.
“Bosco Verticale ist ein Haus für Bäume, in dem auch Menschen wohnen”
Stefano Boeri im Interview mit Stayinart auf der Triennale in Mailand
Dem Architektentrio war schnell klar: Hier ist biologisches Fachwissen gefragt. Die Botanikerin Laura Gatti wählte schließlich insgesamt 20 Baum- und 80 Pflanzenarten aus, die eigens für ihren Einsatz am Bosco Verticale herangezogen wurde. Ihre Wahl fiel unter anderem auf Eschen, Ilex und Olivenbäume.
Über zwei Jahre hinweg wurden die Bäume des Bosco Verticale daran gewöhnt, auf kleinem Terrain zu wachsen. Im Windkanal wurden die Pflanzen auf ihren Einsatz an der Fassade vorbereitet. Zum Schluss verteilte die Botanikerin sie wie ein dreidimensionales Kunstwerk auf die Fassade.
Der Bosco verticale in Mailand ist ein bekanntes Beispiel für Biophilic Design. Die zugrundeliegende Idee ist, Wohngebäude nach dem Vorbild der Natur zu gestalten, um mehr Wohlbefinden, Gesundheit und Produktivität zu erreichen. Hier erfahren Sie mehr über das spannende Konzept des Biophilic Design »
Pflanzen als Gemeinschaftsgut
Heute sind die Pflanzen für alle da. Sie sind ein geteiltes Gut, von dem alle Bewohner des Bosco Verticale profitieren. Sie sind Eigentum der Hausgemeinschaft, die Bewässerung und Pflege wird zentral erledigt. Das ist praktisch, weil keine Mehrarbeit für die Bewohner anfällt, und notwendig, um eine professionelle Versorgung der Pflanzen zu gewährleisten. Aber es ist nicht billig: Mailänder Medien haben errechnet, dass für die Bewässerung und Pflege der Pflanzen rund 1500 Euro Nebenkosten pro Monat und Wohnung anfallen.
Wie nachhaltig ist der Bosco Verticale wirklich?
Im Jahr seiner Fertigstellung wurde der Bosco Verticale 2014 in Frankfurt mit dem angesehenen Internationalen Hochhaus Preis (IHP) als weltweit innovativstes Hochhaus ausgezeichnet. Begründung: Mit dem Bau des Bosco Verticale wurde Pionierarbeit für die Bepflanzung von Hochhäusern geleistet. Aber sind die Waldtürme auch nachhaltig?
Fest steht: Der vertikale Wald verbessert das Mikroklima in den Wohnungen und auf den Balkonen. Die Pflanzen erzeugen Feuchtigkeit und dienen gleichzeitig als Luftfilter: Sie absorbieren CO2 sowie Staubpartikel und setzen gleichzeitig rund 19 Tonnen Sauerstoff pro Jahr frei.
Auch auf psychologischer und körperlicher Ebene hat die Bepflanzung eine bedeutende positive Wirkung auf die Bewohner.
Die Vegetation an den Hochhäusern neuen Lebensraum für Insekten und Vögel. so können die Wohntürme als Trittsteinbiotope zwischen den öffentlichen Parks fungieren. Die Türme sollen so einen Beitrag zu einem Biotopverbundsystem einer Stadt liefern.
Auch in Sachen Energieversorgung setzen die Mailänder Türme auf Nachhaltigkeit und nutzen Geothermie. Vier unterirdische Pumpen beheizen die Wohnungen des Vertikalwaldes.
Kritik am Bosco Verticale – und Boeris Antwort
Für die Fassade mit vertikalem Wald musste viel Beton verbaut werden, was die CO2-Bilanz ungünstig beeinflusst. In einem Interview mit der FAZ entgegnete Stefano Boeri dieser Kritik: „Der Bosco Verticale in Mailand war der Beginn von etwas Neuem. Man hätte dort auch ein normales Hochhaus hinstellen können. Stattdessen stehen da jetzt zwei Wohntürme, an deren Fassade so viele Pflanzen wachsen, wie normalerweise auf etwa drei Hektar Wald.“
Das Bosco Vertikale ist ein Prestigeprojekt. Wirtschaftlich gesehen waren die Zwillingstürme daher nicht gerade nachhaltig, wenn man auf die Bau- und Investitionskosten, aber auch Bewirtschaftungskosten blickt. Gekostet hat der Bau 55 Millionen Euro, die Eigentumswohnungen darin gab es für je 6.000 bis 7000 Euro pro Quadratmeter.
Doch auch in Sachen wirtschaftlicher Nachhaltigkeit will das erfolgreiche Architektenbüro um Stefano Boeri bald nachjustieren. So soll im Jahr 2021 im niederländischen Eindhoven ein Sozialwohnungsprojekt begrünt werden: Im 19-stöckigen Trudo Vertical Forest bekommt jede Wohnung ihren einen eigenen Baum. Außerdem sind weitere 5.200 Sträucher und Pflanzen vorgesehen. Die Appartements sollen für rund 700 Euro Mietkosten pro Monat angeboten werden.
Mehr zum vertikalen Wald in Einhoven erfahren Sie hier.
Seit dem Bau des Bosco Verticale sind außerdem auch in vielen anderen Ländern Waldtürme entstanden oder geplant, beispielsweise in China, Brasilien, Mexiko, Indien, Indonesien, Frankreich, Spanien und Deutschland.
Stefano Boeris Manifest für mehr Nachhaltigkeit
Stefano Boeri setzt nicht des guten Prestiges und Images wegen auf spektakuläre Green Buildings. Der Architekt hat eine Mission: Seine globale Kampagne soll für mehr Bäume und Pflanzen in unseren Städten sorgen. Denn Städte gehören zwar zu den wichtigsten Verursachern der globalen Erderwärmung, können aber selbst zur Lösung des Problems beitragen, indem sie für mehr Grün sorgen und mithelfen, die Klimaerwärmung umzukehren.
Das sind Stefano Boeris Vorschläge für grüne Städte
Parks, Gärten, Wälder oder von Bäumen gesäumten Alleen in der Stadt anlegen
Stadtdächer in Rasenflächen und Gemüsegärten verwandeln
Grüne Fassaden auf Mauern und Hochhäusern anlegen
Städtische Innenhöfe in grüne Oasen verwandeln
Grüne Korridore in der Stadt schaffen, um die verschiedenen grünen Inseln miteinander zu verbinden
Förderung von Gemeinschaftsgärten und städtischer Landwirtschaft („Urban Gardening“)
Text: Kerstin Dunker
Visionärer Architekt: Francis Kéré
Als erster Afrikaner gewann Francis Kéré den weltweit wichtigsten Architekturpreis − den Pritzker-Preis. Damit wurde sein innovativer Ansatz zur Architektur und für nachhaltiges Bauen ausgezeichnet.
Erfahren Sie, wie der visionäre Architekt mit seinen innovativen Ideenweltweit Anerkennung erlangt hat: Francis Kéré: Was seine Architektur so besonders macht »
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