Visionäre Baukunst: Wie aus Bauabfall von Stuttgart 21 ein Jugendtreff entstand
Wie wird aus gigantischen Betonschalungen, die eigentlich verbrannt werden sollten, beeindruckende Baukunst? In Ingersheim zeigt ein Architekturprojekt, wie Upcycling im Großformat aussehen kann. Aus dem Bauabfall des Großprojekts Stuttgart 21 entstand ein Jugendtreff, der Nachhaltigkeit und Design auf spektakuläre Weise vereint.
In diesem Beitrag:
Dieser Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Technik Stuttgart.
Wiederverwendung statt Sondermüll: Ein zweites Leben für XXL-Betonschalungen
Seit 2010 wird an Stuttgart 21 gebaut, dem milliardenschweren Großprojekt zur Umgestaltung des Bahnhofs in Stuttgart. Der bislang bestehende, oberirdische Kopfbahnhof wird dabei in einen unterirdischen Bahnhof umgewandelt sowie die Verkehrsanbindungen im gesamten Großraum Stuttgart verbessert.
Bei dem architektonisch und statisch anspruchsvollen Projekt werden unter anderem Kelchstützen, Oberlichter und Gewölbe mithilfe gigantischer Betonschalungen gegossen. Im Rahmen eines Forschungsprojekts fanden diese Betonschalungen nun eine einzigartige Weiterverwendung: Aus ihnen entstand ein neuer Jugendtreff.
Die Lichtaugen: Architektonische Highlights des Stuttgarter Hauptbahnhofs
Die Kelchstützen in Verbindung mit den darin liegenden Lichtaugen sind das architektonische Highlight des künftigen Stuttgarter Hauptbahnhofs. Durch ihre kelchartige Form leiten sie das Tageslicht direkt von außen in die Bahnsteighalle, fluten sie mit natürlichem Licht.
"Für eine Wand aus Beton muss man drei Wände bauen: Die eigentliche Betonwand und zwei Wände aus Holz, die nach dem Bauen auch noch abgerissen werden müssen."
Victor López CoteloWer mit Beton baut, kann auf Schalungen in der Regel nicht verzichten: Sie werden benötigt, um den flüssigen Beton in die gewünschte Form zu bringen und während des Aushärtens zu stützen. Sie haben also meist nur ein recht kurzes Leben. Auch beim Großprojekt Stuttgart 21 sollten die Betonschalungen eigentlich "thermisch verwertet" werden, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hatten.
"Viel zu schade zum Wegwerfen!", befanden die Hochschule Konstanz und die Hochschule für Technik Stuttgart. Denn: Ein Endstation-Sondermüll-Szenario wird weder den hochwertigen und leistungsfähigen Materialien noch der geometrischen Besonderheit der Schalelemente gerecht. So entstand die außergewöhnliche Idee, aus Betonschalungen in vier Reallaboren neue Gebäude entstehen zu lassen.
Besonderer Bauaubfall: Betonschalungen für die Kelchfüße
Für die Baustelle des neuen Hauptbahnhofs in Stuttgart werden außergewöhnlich komplexe Betonschalungen aus Brettsperrholz verwendet, um Kelchstützen, Oberlichter und Gewölbe herstellen zu können. Die Bilder zeigen die anspruchsvollen Schal- und Bewehrungsarbeiten für die Kelchfüße.
Reallabor: So entstand der neue Jugendtreff in Ingersheim
Das Forschungsprojekt Stuttgart 210: weiterdenken - weiterbauen!" hatte ein klares Ziel vor Augen: Die Betonschalungen der Stuttgart-21-Baustelle sollten ein zweites Leben bekommen. Also eine Weiterverwendung, ein Re-Use im besten Sinne des Upcycling.
Ein Team von Architekten und Ingenieuren der Hochschulen Konstanz, Stuttgart und Karlsruhe untersuchte Möglichkeiten zur Wiederverwendung. Zunächst nur theoretisch und planerisch, dann auch praktisch. Die Forschungsergebnisse werden in vier Reallaboren − Ingersheim, Marbach am Neckar, Stuttgart-Vaihingen und Mannheim − als Architekturen umgesetzt. Das erste Reallabor ist der Jugendtreff Ingersheim.
Reallabore
sind beliebte "Testräume" der Forschung. Sie machen es möglich, innovative Ansätze unter realen Bedingungen zu erproben, auch wenn es bisher noch keine eindeutigen rechtlichen Regelungen dafür gibt. Neue Ideen und Technologien können so auf ihre Praxistauglichkeit im "echten Leben" getestet werden, beispielsweise in Städten, Gemeinden oder Unternehmen. Dabei arbeiten häufig verschiedene Disziplinen Hand in Hand, auch sind meist Bürger, lokale Akteure oder politische Institutionen eingebunden. So wird Forschung relevanter und praxisnäher.
Auf den Kopf gestellter Planungsprozess
Für gewöhnlich erstellen Architekten die Planung und danach werden alle benötigten Materialien beschafft. Beim Upcycling muss genau anders herum gedacht werden: Hier steht das Material am Anfang des Planungsprozesses. Dies erfordert viel Kreativität und Vorstellungsvermögen − besonders wenn es sich um die Wiederverwendung von in diesem Fall sehr speziellen Schalungselementen handelt.
Für die Planer begann eine dreidimensionale Puzzlearbeit. Die verschiedenen geometrischen Elemente mussten sortiert, auf Verfügbarkeit und Transportierbarkeit geprüft, und zu einem sinnvollen Entwurf "verarbeitet" werden. Erst als klar war, dass das Projekt technisch und logistisch umgesetzt werden kann, konnten die potentiellen Bauherren − in diesem Fall Städte und Gemeinden − öffentlich kontaktiert werden.
„Zu Beginn gab es weder Nutzungen noch Entwürfe. Stattdessen wurden mögliche Kombination aus den verfügbaren Schalelementen gesucht."
Roman Kreuzer, Hochschule KonstanzWer upcycelt, muss flexibel sein − und bleiben
Der ursprüngliche Entwurf bestand aus zwei geometrisch besonders komplexen Schalungselementen. Die gingen allerdings leider auf der Baustelle des Stuttgarter Hauptbahnhofs verloren. Also musste umdisponiert werden. Kurzerhand griffen die Planer auf andere Elemente zurück: sehr große Schalungen eines Fußgängertunnels am südlichen Bahnhofende. Sie waren zwar aufwändig zu transportieren, dafür kostenlos.
Aus diesen Elementen ließ sich zwar ein skulpturaler Innenraum formen, jedoch keine geometrisch sinnvolle Gebäudehülle.
Die Lösung: Die Planer setzten die neue Gebäudehülle einfach auf den "Betonschalungs-Innenraum" auf. Die neuen Dach und Fassadenflächen schützen die Schalungselemente vor Witterung und dienen zugleich der architektonischen Inszenierung. Denn so offenbart sich die spektakuläre Geometrie der Schalungen erst beim Betreten des Bauwerks.
Alle packen mit an: Internationaler Workshop
Besonders war aber nicht nur die unkonventionelle Planung, sondern auch der Bauprozess. Die Ingersheimer Bürgermeisterin Simone Lehnert mobilisierte viele ehrenamtliche Helfer, darunter auch die örtlichen Sportvereine und verschiedene Handwerksfirmen. Im Rahmen eines internationalen Workshops packten auch Studierende mit an − diesmal nicht wie sonst üblich im Zeichensaal, sondern mit Bohrmaschine, Akkuschrauber, Kappsäge und Exzenterschleifer auf der Baustelle.
Binnen zwei Wochen montierten die mehr als vierzig deutschen, türkischen und indischen Studenten des Master-Studiengangs Innenarchitektur an der Hochschule für Technik Stuttgart die ovale Hülle aus Fichtenbrettern und -leisten. Darüber hinaus gab es viel "Fleißarbeit" im Kleinen zu tun: Die Studierenden schliffen die Oberflächen der Schalungselemente und Bänke, erarbeiteten Passtücke und ergänzten Fehlstellen.
Den Bootslack, der die Schaloberflächen für das Betonieren bedeckt hatte, entfernte Prof. Andreas Kretzer, Partner im Forschungsprojekt und Workshop-Leiter, eigenhändig vor der Ankunft der Teilnehmer, um den Zeitplan nicht zu gefährden. Das war aufwändig, lohnte sich aber, denn die sukzessive Behandlung mit Elektrohobel, Parkett- und Exzenterschleifer brachte eine einzigartige Holzoberflächen zum Vorschein.
Einzigartige Architektur aus Bauabfall: So sieht das Ergebnis aus
Lohnte sich der Aufwand? Aber ja! Die Verwendung der Schalungen des Bahnhofs Stuttgart 21 bot die Möglichkeit, einzigartige Architekturen zu schaffen, die unter normalen Bedingungen unbezahlbar wären. Denn die dreidimensional geschwungenen Holzoberflächen waren in der Herstellung äußerst aufwändig: Meterdicke Schichten mehrfach blockverleimten Brettsperrholzes wurden dabei mit einem in acht Achsen beweglichen Roboterarm in die gewünschte Form gefräst. Das kann nicht jeder. Die Schalungen des Bahnprojekts Stuttgart-Ulm wurden von Züblin Timber in Aichach produziert.
Für den neuen Jugendtreff wurden insgesamt zwölf Schalungselemente "gerettet" und verbaut. Kombiniert wurde eine spezielle Auswahl von Schalungselementen, von denen es keine weiteren baugleichen Teile mehr gibt. Das Ergebnis ist ein beinahe textil anmutender, zeltförmiger Innenraum, der jedoch aus massivem Holz besteht.
Von außen gibt es zwei Zugänge. Sie verbergen sich hinter der Lattung der Hülle, sodass von außen kein direkter Blick in den Innenraum möglich ist.
Elegant geschwungene Sitznischen fügen sich in die elliptische Gebäudeform ein − zwei im Innenraum und drei an der Außenseite – zur Rast von Fahrradfahrern, Boulespielern und Besuchern des Spielplatzes.
Über große Fenster nach Norden und Süden sowie durch ein indirektes Oberlicht erhält der Jugendtreff Tageslicht. Die Bewegungsführung ist indirekt, labyrinthisch und sorgt für eine intime Atmosphäre, öffnet sich gleichzeitig weit nach oben.
Nachhaltiges und kreislaufgerechtes Bauen
Beim neuen Jugendtreff stand die Weiterverwendung der vorhandenen Schalungselemente im Vordergrund. Sie bilden den wesentlichen Teil des Tragwerks und sämtlicher Innenoberflächen. Die äußere Hülle besteht ausschließlich aus Vollholz, das reversibel miteinander verschraubt ist. Das heißt, es kann recht einfach zurückgebaut werden. Außer der Dachabdichtung kommen keine Folien oder Unterspannbahnen zum Einsatz. Es wurden weder Klebstoffe noch Lacke verwendet. Sämtliche Holzoberflächen bleiben naturbelassen.
Außerdem zeigt das Projekt neue Wege in der Ökobilanzierung von natürlichen Baustoffen wie Holz auf. Denn es muss keineswegs selbstverständlich sein, dass Bauteile aus Holz nach dem Abbruch eines Gebäudes einfach verbrannt werden.
"Das Ingersheimer Reallabor kann einen wesentlichen Diskussionsbeitrag zu Klimaschutz und Kreislaufwirtschaft leisten, um die Grenzen des bisher Möglichen und Vorstellbaren zu verschieben.“
Forschungsteam Stuttgart 210Bautafel: Jugendtreff Ingersheim − Reallabor im Forschungsprojekt Stuttgart 210
- Projektlaufzeit: Februar bis Oktober 2024
- Bauherr: Gemeinde Ingersheim, vertreten durch Bürgermeisterin Simone Lehnert
- Entwurf: Andreas Kretzer, Stefan Krötsch, Roman Kreuzer, Katharina Raabe, Maximilian Stemmler
- Ausführungsplanung und Bauleitung: Klingelhöfer Krötsch Architekten, Partnerschaftgesellschaft mbB
- Tragwerksplanung: Faltlhauser Krapf, Beratende Ingenieurgesellschaft mbH
- Holzbau: Koch Holzbau, Ingersheim
- Rohbau: Claus Kofink und TPW Bau GmbH, Ingersheim
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