Möbel aus Müll: Designmöbel aus Recycling
Recycling-Design: Wer heute Design sagt, muss auch Nachhaltigkeit, Wiederverwertung und Werkstoffkreislauf sagen. Denn das sind die Standardvokabeln der Entwerfer und Hersteller, die sich mit den aktuellen Einrichtungstrends beschäftigen. Schließlich sind sogenannte Abfallstoffe – vor allem Kunststoffverpackungen, aber auch Holzreste, Metallschrott oder Biomüll – inzwischen wertvolle Quellen für eine neue Möbelkategorie: die Recycling-Designmöbel.
In diesem Artikel:
- Der grüne Punkt und Recycling als Designaussage: Startschuss mit Bär+Knell
- Recycling-Designmöbel: Klassische Möbel-Ikonen im neuen Gewand
- Recycling-Designmöbel der drei Start-Ups WYE, OUT und TFOB
- Digitale Revolution für Morgen: Recycling-Design aus dem 3D-Drucker
Ein Beitrag unserer Redaktion.
Der grüne Punkt und Recycling Design: Startschuss mit Bär+Knell
Bis in die Achtziger machte sich kaum jemand Gedanken über leere Weichspülerflaschen, Chipstüten und Getränkedosen; die Prilblume blühte und die Warenwelt war vor allem bunt. Verpackungsmüll türmte sich demzufolge auf den Deponien und landete unsortiert in den Müllverbrennungsanlagen. Ab 1990 wurde mit der Einführung des Dualen Systems der Plastikabfall erstmals vom Restmüll getrennt – und es gab erste Recyclingversuche; Resultat war unter anderem der braune, klotzige Blumentrog in den deutschen Fußgängerzonen.

Erst das Künstler- und Designerkollektiv Bär+Knell aus Bad Winpfen kam auf die Idee, den Kunststoffmüll in seine ästhetischen Bestandteile aufzudröseln. Beata und Gerhard Bär sowie Hartmut Knell entwickelten in einem eigenen Schmelzverfahren ein Material, bei dem Schriftzüge, Logos und Farben erhalten blieben. Es schmiegt sich überwurfartig zu Stühlen und Sesseln, unbekümmert farbig und provokativ lässig.
Jedes Objekt bleibt in Form, Farbe und Struktur ein Einzelstück. Eine Individualisierung geschieht und das Material bekommt eine Identität. Jedes Objekt wird so zum Dokument einer bestimmten Zeit, zum Kommentar des Alltäglichen.
Bär+Krell
Die seriellen Unikate flimmern bis heute zwischen Kunst und Anarchie. Sie sind bewusst etwas grob gestaltet, wobei die drei Designer ihr verändertes Material durchaus als Upcycling verstehen. Schließlich kreieren sie aus einem Abfallprodukt ein neues Gebrauchsobjekt. Dabei verschleiern sie weder den Herstellungsprozess, noch das Ausgangsmaterial. Gleichzeitig spiegeln sie unsere poppig bunte Konsumwelt und die damit verbundenen Probleme.
Inzwischen gehören zur Produktpalette auch Leuchtobjekte wie Stehlampen, Wandbilder und Lichtschränke, die den Kunststoffmüll zum Strahlen bringen. Gerade weil es dem Künstlertrio bei seiner Arbeit vorrangig um das Prinzip des Recyclings und seiner Möglichkeiten geht, können Bär+Knell als Vorreiter des Recycling-Design für Möbel in Deutschland gelten.
Mittlerweile befinden sich Stücke des schwäbischen Kollektivs in den großen Sammlungen und Museen rund um die Welt. Das Trio nimmt regelmäßig an großen Designmessen, Events und Ausstellungen zum Thema Recycling teil. Außerdem engagiert es sich weltweit in Workshops und regt die Teilnehmer zum kreativen Umgang mit dem Verpackungsmüll vor Ort an.
Am Anfang war es erst mal eine Idee …
Wie weit Bär+Knell ihrer Zeit voraus waren und als „Entdecker“ des Recycling-Design für Möbel gelten können, zeigten sie 2002 in Berlin, in der Ausstellung „U3 Innovation und Wirtschaft“ der Deutschen Gesellschaft für Kunststoff-Recycling; Sie reinszenierten einen Bestseller der Firma Heller aus New York, entworfen von Mario und Claudio Bellini – den „Arco“ Chair. Er wurde in einer limitierten Auflage von 100 Stück aus 100 Prozent gesammeltem und recyceltem Plastikabfall des grünen Punktes gefertigt und mit Glasfaser verstärkt. Eine industrielle Produktion wäre schon damals möglich gewesen, aber Altplastik war – trotz aufkeimendem Umweltbewusstsein – noch kein durchschlagendes Thema in der Möbelwelt de luxe.
Hier geht es zur Website von Bär+Knell.

Rund 18 Jahre später greift Vitra den Gedanken der Verwertung lokalen Plastikmülls wieder auf; dank der Sammelleidenschaft deutscher Haushalte kann das Unternehmen dafür auf reichlich Material aus den gelben Säcken bauen. Sie griffen auf einen Sitzklassiker von Barber und Osgerby zurück und produzieren seit 2020 den „Tip Ton RE“ aus 100 Prozent gesammeltem Haushaltsmüll in Serie. Den Stuhl gibt es in mehreren Farbvarianten, ab 250,- €.
Recycling-Designmöbel: Klassische Möbel-Ikonen im neuen Gewand
Das Potential recycelter und recycelbarer Materialien wird für Hersteller weltweit berühmter Kultmöbel immer interessanter. Schließlich sollen ihre Möbel nicht nur in Museen überleben, sondern auch in Zukunft begehrte Wohnobjekte bleiben.
Cassina: Das italienische Flaggschiff setzt neue Segel
Das Mailänder Nobelunternehmen Cassina frischte letztes Jahr beispielsweise seine legendären Sessel auf. Diese wurden 1928 von Le Corbusier, Pierre Jeanneret und Charlotte Perriand entworfen.
“Mein eigenes Ziel ist es, die Harmonie zwischen den Menschen und ihrer Umwelt herzustellen oder wiederherzustellen.”
Le Corbusier
Seitdem durchliefen die Kuben „LC2“ und „LC3“ schon mehrere Updates; 1965 experimentierte Charlotte Perriand mit dem neuen Material Polyurethan. 13 Jahre später kamen mehrfarbige Modelle dazu. In den letzten Jahren überarbeitete Cassina gemeinsam mit der Foundation Le Corbusier sowie Erben der Co-Designer die Sessel aus der „I Maestri Collection“. Die beiden Designklassiker sind seit 2020 mit der ökologisch aufgewerteten Polstervariante „Grand Confort Durable“ erhältlich.
Emeco: Ein Stuhl, der aus dem Wasser kommt
Auch jenseits des großen Teichs ist das Thema Recycling Design angekommen, wobei es für das amerikanische Unternehmen Emeco längst Routine ist; 1944 entstand aus der Not die Idee, für die U-Boote der Navy aus recycelten Altstoffen einen Stuhl zu produzieren. Seitdem ist der Aluminiumstuhl „1006 Navy Chair®“ fester Bestandteil der amerikanischen Designgeschichte.
„Nimm das, was übrig geblieben ist, und mache daraus etwas Dauerhaftes.“
Emeco

Heute befindet sich durch die Klimakrise der ganze Planet in Not. Um die Meere zumindest zum Teil von der steigenden Flut an Plastikflaschen zu befreien entwickelte die Firma deshalb 2006 gemeinsam mit Coca Cola ein Projekt. Es dauerte jedoch vier Jahre, um das recycelte PET zu einem robusten Stuhl, dem „111 Navy Chair®“, umzuarbeiten. Letztes Jahr feierte er sein zehnjähriges Jubiläum und immerhin werden pro Stuhl mindestens 111 Plastikflaschen verarbeitet; dabei sind nicht alle von Coca Cola …


Kartell: Plastik ist nicht alles
Einen neuen Aspekt bringt Kartell ins Spiel. Die Architektin Anna Castelli-Ferrieri war Gattin des Firmengründers Giulio Castelli und seine federführende Designberaterin. Ihr Baukastensystem „Componibili“ aus Kunststoff katapultierte das Unternehmen 1967 in die erste Liga wegweisender Möbelfirmen. Plastik-Problematik und Umweltbewusstsein waren damals noch in weiter Ferne. Inzwischen formulierte Kartell sein ökologisches Engagement in seinem Manifest „Kartell loves the planet“ und forscht an neuen Materialien. Im letzten Jahr wurde das bekannte Baukastensystem als Variante „Componibili Bio“ aus Biokunststoff aufgelegt. Pflanzliche Abfälle aus der Landwirtschaft werden durch beigemischte Mikroorganismen in ein kunststoffähnliches Material verwandelt, dass sich vollständig biologisch abbauen lässt.


Recycling-Design der drei Start-Ups WYE, OUT und TFOB: Die neuen Bessermacher
Zeitgemäße Formen, minimaler Ressourcenverbrauch und nachhaltige Kreisläufe sind das Stammkapital, mit dem sich aufstrebende Gestalter und Design-Start-Ups heute einen Namen machen. Dieser ist dabei gern prägnant abgekürzt. Wie auch die Kernidee; statt in bisher üblichen Produktionsabläufen wird in Lebenszyklen gedacht. Schönes Möbel – lange Nutzung – sortenreines Recycling – Rückführung als erneuerte Rohstoffquelle in den Werkstoffkreislauf. Und zwar am besten in den eigenen.
OUT: Berliner Brutalismus mit dem Zeug zur Ikone
Ein passendes Beispiel liefert das seit 2015 von David Spinner, Reinhard Wessling und Christoph Steiger geführte Jungunternehmen OUT (Objekte unserer Tage) aus Berlin. Das Trio hat sich sowohl dem Thema Nachhaltigkeit, als auch dem Anspruch einer kompromisslosen Designsprache verschrieben. Und das wird bei jedem neuen Entwurf konsequent umgesetzt.
“Wir verfolgen das Ziel, Möbel und Accessoires mit Substanz zu schaffen, die den Bedürfnissen unserer Zeit gerecht werden und einen praktischen wie emotionalen Wert erfüllen.”
OUT
Für die Durchstarter entwarf der bekannte deutsche Designer Hermann August Weizenegger 2020 den monumental anmutenden „X-Chair“. Der robuste Stuhl wird, wie alle Produkte von OUT, in Deutschland gefertigt. Er besteht zudem zu 100 Prozent aus fair produziertem, recyceltem Material, das sich lückenlos in den Produktionszyklus rückführen lässt. Ab 379,- €, im Fachhandel sowie direkt über die Website von OUT.
Hier geht es zur Website von OUT.
WYE: Des Möbels Ende ist des Möbels Anfang
Das sogenannte Cradle to Cradle-Prinzip, also Rücknahme der produzierten Möbel und Rückführung in den eigenen Produktionskreislauf, ist der grundlegende Gedanke von WYE.
“WYE (‘Why’) is the important question that leads to the beginning of everything new.
‘Warum’ ist die entscheidende Frage, die zum Beginn alles Neuen führt.”
Franziskus Wozniak & Ferdinand Krämer, Gründer von WYE

Wirtschaftsingenieur Wozniak und Industriedesigner Krämer entwickelten 2015 den neuartigen Holzwerkstoff „Neolign“. Er besteht aus eingefärbten Abfallspänen der Holzindustrie, die mit Polymeren zu Platten zusammengepresst werden. Der Clou dabei; Das Unternehmen nimmt nach der Nutzungsdauer seine Produkte zurück und führt sie danach wieder vollständig in den eigenen Werkstoffkreislauf ein. Ihre farbenfrohe „Chamfer“-Kollektion erhielt 2021 zahlreiche Auszeichnungen, sowohl den Deutschen Nachhaltigkeitspreis, als auch die Iconic Awards und den German Design Award. Die Preise der Hocker, Bank, Konsole und Lowboard umfassenden Kollektion starten bei 149,- €.
Hier geht es zur Website von WYE.
Die Bestandteile der „Chamfer“-Kollektion sind farbig lackierte Stahlgestelle mit einer Deckplatte aus „Neolign“
Bilder: WYE
TFOB: Terrazzo, die Schönheit im Schutt
Rasa Weber und Luisa Rubisch, Entwicklerinnen und Initiatorinnen des Designer- und Architekturkollektivs „They Feed off Buildings“, kurz TFOB, sind fasziniert von den Überresten alter Häuser. Für sie sind die Bewahrung des baukulturellen Erbes und ein architektonischer Wandel kein Widerspruch. Mit dem Projekt „Urban Terrazzo“ haben sie eine Möglichkeit eröffnet, Bauschutt zu recyclen und gleichzeitig die Spuren ehemaliger Architekturen in einen nachhaltigen Materialkreislauf einfließen zu lassen.

Das Kollektiv ist in Berlin ansässig, eine Stadt in der jedes Jahr rund 5 Millionen Tonnen Bauschutt anfallen. Das Duo liest auf den Baustellen den Schutt sorgfältig von Hand aus, stellt die Bruchstücke farbig zusammen und zerkleinert und schleift sie in einem Betonmischer zu farbigen Kieseln.
Vermischt mit einem speziell entwickelten Betonwerkstoff entstehen so die „Urban Terrazzo“-Platten. Sie bezeugen den abgeschlossenen Lebenszyklus eines Gebäudes und sind zugleich ein innovativer, erneut recycelbarer Bodenbelag von hohem ästhetischen Wert für ein neues Haus. Das Projekt wurde schon auf Baustellen in Berlin, Verona sowie Prag umgesetzt. Jetzt ist auch ein erstes Möbel Teil der Kollektion – der Tisch „UTO1“, Preis auf Anfrage.
Digitale Revolution für Morgen: Recycling-Design aus dem 3D-Drucker
Es wird nicht nur mit alternativen Materialien und Abfallstoffen experimentiert. Seit einigen Jahren rückt auch eine spannende digitale Fertigungsmethode in den Fokus; Möbel und Gebrauchsobjekte sind inzwischen auch mit recycelten Materialien im 3D-Druck möglich und verändern die Formensprache in der Zukunft nachhaltig.
Studio Kooji: Neue Ästhetik aus einem Strang

Einer der ersten Protagonisten auf diesem Feld ist der Niederländer Dirk Vander Kooij. Er begann damit vor über zehn Jahren im Rahmen seines Abschlusses an der renommierten Gestalterschmiede Eindhoven in Holland. Mit einem 3D-Drucker und einem technisch aufgepäppelten Roboterarm aus der Autoindustrie sowie zerschredderten Kühlschränken schuf er seinen ersten Prototypen, den „Endless Chair“. Mithilfe eines Extruders wurde das zu kleinen Teilchen zerschredderte Rohmaterial verflüssigt und als ein endloser Kunststoffstrang vom Roboterarm in Schleifen aufeinander gelegt.
“Die Menschen sollten in der Lage sein, ein Produkt zu verstehen. Bei den Endless Stühlen kann man sehen, dass die Stühle aus einem einzigen Kunststofffaden aufgebaut sind, ohne diese komplizierten Formen.”
Dirk Vander Kooji
Der Gestalter errang mit seinem Entwurf sofort weltweit Anerkennung. Ein „Endless Rocking Chair“, die Schaukelstuhlvariante des ersten Modells, steht beispielsweise im MOMA, New York. Man kann ihn aber auch kaufen – für etwa 1.850,- €. Das Recycling-Design des Studios hat ohne Frage seinen Preis. Aber sie sind gefragt, denn inzwischen verarbeitet das Team jährlich 29 Tonnen recycelten Kunststoff zu Möbeln, Leuchten und Wohnaccessoires. Mit Begeisterung, denn wie sagt der Designer? „Obwohl er unerbittlich launisch und unberechenbar ist, bleibt recycelter Kunststoff ein inspirierender Kompagnon“. Und der Roboterarm der ersten Stunde? Ist immer noch im Einsatz.
Persea Design: Bioabfall ins rechte Licht gerückt
Sandstein, Leinen, Reifen, Kaffee, Pilze und Kaugummi; Die Liste der Abfallstoffe, aus denen Filamente für den 3D-Drucker gewonnen werden, ist lang und klingt skurril. Biologische Abfallstoffe sind darin fast schon normal.

Die Designerin Kathrin Breitenbach, Gründerin der Manufaktur Persea Design, gewann mit ihrer Deckenleuchte „Persea“ aus Avocadokernen den Recyclingdesignpreis 2019. Dieser wird alle zwei Jahre vom Arbeitskreis Recyclingpreis Herford vergeben.
Avocado ist derzeit beliebt. In gastronomischen Betrieben fallen daher jede Menge Kerne der emissionsstarken Frucht ab. Mithilfe der Dezentrale Dortmund, einer offenen Werkstatt zur Entwicklung digitaler Fertigung und biologischer Experimente, konnte die Gestalterin das Bio-Filament aus den Kernen der Beerenfrucht sowie einem Thermoplast aus Maisstärke extrahieren. Die im 3D-Drucker entstandene modulare Deckenleuchte besteht aus zwei Teilen, die sich zusammenschrauben lassen. Inzwischen wurde die Kollektion um eine Variante aus Kokosnuss-Filament sowie um Vasen aus recycelten Holzfasern und Mais erweitert.
„Der 3D-Druck ermöglicht sowohl eine zeitnahe, individuelle Produktion, als auch die Herstellung von Variationen, ohne weitere Werkzeuge zu benötigen. Beim Spritzguss braucht jede Korrektur eine neu zu fräsende Form, im 3D-Druck lediglich einen neuen programmierten Gcode.“
Kathrin Breitenbach
Einen Wermutstropfen gibt es jedoch; Noch können recycelte Produkte aus Biofilamenten nicht sortenrein getrennt werden und sind somit noch nicht in den Werkstoffkreislauf rückführbar. Aber die Designerin ist zuversichtlich angesichts der zahlreichen „Artist in Lab“ Projekte, in denen Gestaltung, Wissenschaft und Kunst zusammen an neuen Lösungen arbeiten.
Text: Helene Schwab