"Zirkuläres Wirtschaften ist das neue Normal"

Tim Janßen vor Hintergrund Kreislaufwirtschaft
Foto: Cradle to Cradle NGO, Collage J.Fink Verlag

Wie sehen die Fortschritte und Perspektiven einer nachhaltigen Bauwirtschaft aus? Tim Janßen, Geschäftsführender Vorstand der Nichtregierungsorganisation Cradle to Cradle NGO, im Gespräch mit dem CRADLE Magazin.

Das Interview führte Dr. Frieder Stein
Geschäftsführender Gesellschafter von CRADLE

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Print-Ausgabe No. 5 von CRADLE.

Neben dem Interview mit Tim Janßen finden Sie in unserem Print-Magazin rund 100 Seiten zu innovativen Vorreiterprojekten wegweisender Nachhaltigkeitsarchitektur.

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Über unseren Interviewpartner Tim Janßen

Tim Janßen
Tim Janßen
Foto: Cradle to Cradle NGO

Tim Janßen ist geschäftsführender Vorstand der Cradle to Cradle NGO. Janßen studierte Wirtschaftswissenschaften u.a. an der Leuphana Universität Lüneburg, der Dualen Hochschule Baden-Württemberg und der Universität Wien. Aus der Idee heraus, die Cradle-to-Cradle-Denkschule in die Mitte der Gesellschaft zu tragen, gründete er 2012 die gemeinnützige Organisation Cradle to Cradle NGO mit Nora Sophie Griefahn. Ebenso war er am Aufbau des C2C Congress (seit 2014) sowie C2C LAB Bildungszentrums (seit 2019) in Berlin beteiligt. Er unterrichtet zu C2C an Hochschule und Universitäten.

CRADLE im Interview mit Tim Janßen

Welche Zukunftsperspektiven hat die nachhaltige Bauwirtschaft?

CRADLE: Herr Janßen, seit mehr als zwölf Jahren engagieren Sie sich mit Ihrer Organisation für eine nachhaltigere Welt. Wie schauen Sie auf diese Jahre zurück?

Tim Janßen: In der Tat begegnete uns zu Beginn sehr viel Verwunderung. Wir waren konfrontiert mit Unverständnis und Missverständnissen. Aber dies hat sich in den letzten zwölf Jahren wirklich sehr stark gewandelt, obwohl ich gar nicht glaube, dass sich seither die Innovationsbereitschaft oder die Tatkraft in Wirtschaft, Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft so stark verändert hat. Aber es hat ein Umdenken stattgefunden hinsichtlich der Relevanz des Themas.

CRADLE: In Kreisläufen zu denken, ist nichts Neues. Weshalb gab es daher bei der Gründung Ihrer NGO so viel Verwunderung?

Tim Janßen: Wir verstehen Kreislaufwirtschaft unter den Prinzipien von Cradle to Cradle ganzheitlich und haben einen sehr viel umfassenderen Blick auf das Thema zirkulären Wirtschaftens. Wir müssen dazu Zusammenhänge erkennen und ganzheitliche Lösungen für die komplexen Problemstellungen unserer Zeit finden. Unser Umgang mit Ressourcen und das Klima bedingen sich beispielsweise direkt: Ein neuer Umgang mit endlichen Rohstoffen hat einen positiven Einfluss auf das Klima, also müssen wir beides zusammen denken. Dass solche Zusammenhänge eine umfassende Transformation im Denken und Handeln erfordern, fest verankert in der Wirtschaft und in politischen Rahmenbedingungen, hat jetzt eine grundsätzliche Akzeptanz erreicht. Unsere Arbeit stellt eigentlich kein Akteur in der Wirtschaft, in der Politik, in der Gesellschaft mehr infrage.

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» Es wird überall an Lösungen gearbeitet. Der Aufbruch hat begonnen. Nun gilt es, diesen Aufbruch zu beschleunigen, zu skalieren. «

Tim Janßen
Tim Janßen
Foto: Cradle to Cradle NGO

CRADLE: Die Ziele Ihrer Arbeit sind also erreicht?

Tim Janßen: Nein (lacht), aber der Nährboden ist gelegt. Jetzt können wir uns den konkreten Fragen nach dem Wie widmen. Wie geht das? Wie geht es am schnellsten? Wie geht es am besten? Wie geht es am effektivsten? Wie geht es ökonomisch sinnvoll, wie bringen wir das Ökonomische und das Ökologische und das Soziale zusammen? Ja, es gibt noch sehr viel zu tun, aber man sieht, es wird überall an Lösungen gearbeitet. Der Aufbruch hat begonnen. Nun gilt es, diesen Aufbruch zu beschleunigen, zu skalieren.

CRADLE: Ist dies nicht allzu optimistisch gedacht? Von einer Skalierung einer nachhaltigen Architektur sind wir doch noch weit entfernt.

Tim Janßen: Es geht darum, dass wir die Architekten, die Projektentwickler, die Finanzierer, die Hersteller von Baumaterialien etc. in der breiten Masse erreichen. Zu vermitteln, dass es jetzt eigentlich nichts Neues mehr ist, zirkulär zu arbeiten, sondern dass dies jetzt das neue Normal ist. Wir sind sicherlich noch nicht am Ziel, aber aus meiner Sicht ist der Tipping Point erreicht, bei dem wir über das Experimentieren hinausgehen. Ich würde noch nicht sagen, C2C ist der absolute Standard, aber es entwickelt sich gerade anhand zahlreicher konkreter Projekte. Es entstehen Lerneffekte bei allen Akteuren. Lerneffekte in der Politik bei der Regulierung. Aber auch Lerneffekte auf der Nachfrageseite und auch auf der Angebotsseite.

CRADLE: Das sollten Sie uns genauer erläutern.

Wir erleben immer häufiger, dass entweder in der öffentlichen Beschaffung oder im Privatsektor eingefordert wird, nach dem Cradle-to-Cradle-Prinzip zu arbeiten. Ich hab’s gerade gesehen. Ich war Bestandteil einer Jury für die Sanierung des Hauptgebäudes der Rheinisch Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen, die unter der Einwirkung zahlreicher Jury-Mitglieder jetzt zirkulär erfolgt.

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CRADLE: Sind dies nicht Einzelfälle?

Tim Janßen: Auch die Bauwirtschaft sieht, dass dieses Müllaufkommen einfach keine Zukunft haben kann und dass es ein Wettbewerbsvorteil ist, wenn man zeigen kann, wie nachhaltiges Bauen geht. Zahlreiche Architekturbüros setzen auf zirkuläres Bauen und fordern dies auch von den Gewerken. In allen Produktgruppen sehe ich, dass da Firmen sind, die auf dieses Pferd setzen. Auf der Bau 23 war ich erstaunt, wie viel mehr Hersteller mit ihren Produkten Lösungen anbieten. Vor vielen Jahren musste ich damals noch mit der Lupe suchen, um die entsprechenden Unternehmen zu finden. Da ist schon wirklich viel im Umbruch.

» Dabei muss immer klar sein, dass bei allem, was heute errichtet oder saniert wird, mit Materialien gearbeitet werden muss, die rückbaubar und zirkulär sind. «

Tim Janßen
Aussortieren von Recyklat
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Foto: Wopfinger Transportbeton

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CRADLE: Also alles im Fluss in Richtung einer nachhaltigen Bauwirtschaft?

Tim Janßen: Wir haben aktuell einen sehr angespannten Baumarkt. Auf der einen Seite muss natürlich viel neu gebaut werden, auf der anderen Seite dürfen wir den Bestand nicht vernachlässigen. Beide Märkte sind von Bedeutung. Ja, ich glaube, es ist in der Tat relevant, sowohl die neugebaute Umgebung, aber natürlich auch die „graue Energie“, den gebauten Bestand also, im Auge zu behalten. Dabei muss immer klar sein, dass bei allem, was heute errichtet oder saniert wird, mit Materialien gearbeitet werden muss, die rückbaubar und zirkulär sind. Gebäude müssen als Rohstoffquellen gesehen werden, ob sie nun schon gebaut sind oder nur saniert werden.

CRADLE: Das klingt nach „großem Wurf“. Gibt es dafür denn überhaupt genügend Lösungen?

Tim Janßen: Zunächst muss uns klar sein: Wir brauchen Ziele, die positiv gesteckt sind, und wir brauchen praktische Anwendungsbeispiele. Also ganz viele Dinge, die man anfassen kann, die man erleben kann. Wir brauchen keine Sonntagsreden und blumigen Ausflüchte, wie die Welt denn sein könnte, wenn wir Lösungen hätten. Denn wir haben diese Lösungen bereits. Es braucht noch viel mehr Akteure, die aufzeigen, dass es da schon so viele Leute gibt, die sich wirklich Gedanken machen und ganz tolle Lösungen liefern. Lösungen, die teilweise auch kurz davorstehen, mit großem Skaleneffekt eine breite Wirkung zu zeigen. Ich glaube, das ist ein wesentliches Element beim Cradle to Cradle, dass diese Transformation nicht nur im Kopf stattfindet.

» Wir müssen Menschen begeistern, an Zukunftslösungen mitzuarbeiten – und zwar nicht mit einem verklärten Blick auf die Zukunft, sondern mit dem, was praktisch einfach heute funktioniert. «

Tim Janßen
Designer planen mit Nachhaltigkeit
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Foto: Adobe Stock

CRADLE: Cradle to Cradle ist für Sie auch eine Frage gesellschaftlicher Dynamik?

Tim Janßen: Ja, das erlebe ich seit zwölf Jahren. Wir müssen Menschen begeistern, an Zukunftslösungen mitzuarbeiten – und zwar nicht mit einem verklärten Blick auf die Zukunft, sondern mit dem, was praktisch einfach heute funktioniert. Ich glaube, diese Begeisterung ist deutlich nachhaltiger als graue Theorie. Mir ist wichtig, dass wir als Gesellschaft alle Gelegenheiten ergreifen, um unsere Herausforderung zu bewältigen. Und Freude daran haben, Teil dieser Veränderung zu sein. Dies ist ein wesentlicher Teil unserer Aufgabe. Es ist uns wichtig, möglichst viele Akteure dazu einzuladen, gerade auch die, die vielleicht heute noch nicht unserer Meinung sind. Mit ihnen wollen wir in einen Austausch zu kommen.

CRADLE: Sehen Sie sich mit Ihrer Organisation damit auch als Mutmacher?

Tim Janßen: Ich glaube, dass wir alles dafür tun müssen, auch gesellschaftlich, diese Einladung an unsere Innovationskraft auszusprechen. Dass wir alles dafür tun müssen, um unsere Chancen aufzuzeigen und uns als Nützlinge statt als Schädlinge zu begreifen. Wir leben aktuell in einem Umbruch, der erheblich ist. Doch wir haben guten Grund, mit Mut und Zuversicht auf unsere Handlungskraft zu blicken. Wir brauchen die Freude an einer positiven Gestaltung unserer Welt. Wir müssen Menschen dafür motivieren und sie auch mitnehmen auf diese Reise. Ja, ich glaube, das hat dann auch ganz viel mit anderen Themen zu tun, die uns gerade bewegen. Seien es die Themen Demokratie, Globalisierung, internationale Zusammenarbeit oder eben auch die Klimaveränderung vor Ort.

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