„Lebenswerte Städte brauchen Mut zum Umdenken und Experimentieren“
Wie gelingt Stadtplanung, die den Menschen ins Zentrum rückt? Im Interview sprechen wir mit Gabriela Beck über ihr Buch "Wie wir wohnen wollen" (2025). Sie fordert Vielfalt statt Verdrängung, gemeinschaftliches Wohnen statt isolierter Einzellösungen und Experimentierräume statt Festhalten am vermeintlich Bewährten. Anhand von Beispielen wie der Zero-Waste-Stadt Kiel oder der Initiative „FettFressHair“ zeigt sie, wo Kommunen bereits neue Wege gehen – und wo aus ihrer Sicht noch Potenzial liegt.
Das Interview führte:
Frau Beck, der Begriff der lebenswerten Stadt zieht sich als roter Faden durch Ihr Buch – was bedeutet das für Sie ganz konkret?
Jedenfalls mehr als fließender Verkehr, saubere Luft, weniger Lärm, mehr Grün – dann hat man vielleicht eine funktionierende Stadt, aber noch nicht unbedingt eine lebenswerte. Lebenswert wird sie für mich erst, wenn man dort gerne unterwegs ist und sich gerne dort aufhält. Das hat viel mit einem Gefühl von Sicherheit zu tun, aber auch mit Aufenthaltsqualität, also dass es genügend Plätze oder Sitzgelegenheiten gibt und man sich einfach mal irgendwo niederlassen kann, ohne gleich konsumieren zu müssen.

Öffentliche Parks sind die grünen Lungen unserer Städte. Sie schützen vor Hochwasser, verbessern die Luft, bieten wertvolle Lebensräume. In diesem Beitrag zeigen wir, durch Studien belegt, den ökologischen und gesellschaftlichen Wert von öffentlichen Parks »
Was wären denn für Sie Beispiele für besonders gelungene Stadtentwicklungsprojekte?
Es fällt mir hier schwer, ein konkretes Projekt oder eine einzelne Stadt herauszugreifen. Das war tatsächlich ein Learning aus meiner Recherche, dass bereits wahnsinnig viel gemacht wird, sowohl im Großen als auch im Kleinen.
Total spannend fand ich ein Zero-Waste-Konzept, das aus der Kreislaufwirtschaft kommt. Hier haben sich verschiedene Kommunen zu einem Netzwerk zusammengeschlossen, den European Zero Waste Cities. Diese Städte versuchen zum einen, möglichst wenig Abfall zu produzieren und zum anderen, den vorhandenen Abfall weiterzuverwerten. Kiel wurde 2023 die erste Zero Waste City Deutschlands, inzwischen sind weitere nachgekommen. Da geht es nicht einfach nur um Altkleider sammeln, Müll trennen, Secondhand-Kaufhäuser und Unverpackt-Läden, das machen wir ja alles bereits. Das Konzept ist viel umfassender: Hier wurden wirklich die Leute vor Ort befragt und Ideen gesammelt. So haben sich zum Beispiel Kieler Friseure zur Initiative „FettFressHair“ zusammengetan. Sie haben abgeschnittene Haare gesammelt, in gebrauchte Kompressionsstrümpfe gestopft, und damit die Kieler Stadtgewässer gereinigt. Denn Haare können viel Fett aufsaugen, und ziehen so in ziemlich großer Menge Verschmutzungen durch Öl, Benzin oder Sonnencreme aus dem Wasser. Das geht für mich alles in Richtung einer zukunftsfähigen Stadt, als Grundlage für eine lebenswerte Stadt.
In diesem mdr-Beitrag wird die Initiative "FettFressHair" vorgestellt:
Länge des Beitrags: 6 Minuten
Neue Ideen, neue Gedanken, Innovation. Vielfalt ist das, was eine Stadt attraktiv macht. Wenn sie verloren geht, ist das schlecht.
Gabriela BeckIn Ihrem Buch sagen Sie immer wieder, dass Städte "Orte der Gemeinschaft" werden müssen. Glauben Sie, dass das Leben in der Gemeinschaft in der Stadt zu kurz kommt?

In Deutschland haben wir eine wachsende soziale Ungleichheit. Das Wohnen in Städten ist oft kaum mehr bezahlbar, weil die Mieten so teuer geworden sind. In den Großstädten kann sich tendenziell nicht mal mehr die Mittelschicht die Mieten leisten. Wer eine Wohnung sucht, zieht entweder an den Stadtrand oder noch weiter raus, in den Speckgürtel oder gleich ganz aufs Land. Die Pendler verstopfen dann wieder die Straßen, indem sie zum Arbeiten in die Stadt kommen. Letztlich führt das zur Verödung der Innenstädte, weil sich nur noch reiche Leute diese Lage leisten können. Dabei wohnen sie dort meistens nicht mal selbst, sondern betrachten ihre Immobilie als Investitionsanlage, also zumindest in meinem Wohnort München ist das immer öfter der Fall.
Für mich bedeutet aber Urbanität vor allem Vielfalt. Das ist ja genau das, was eine Stadt ausmacht, dass viele verschiedene Menschen zusammenleben. Wenn ich Leute aus anderen Kulturen treffe, andere Lebensentwürfe und Meinungen kennenlerne, dann kann etwas Neues entstehen, neue Ideen, neue Gedanken, Innovation. Vielfalt ist das, was eine Stadt attraktiv macht. Wenn sie verloren geht, ist das schlecht.
Wenn Sie sagen, das sei schlecht – wie würden Sie steuern wollen, dass sich die soziale Zusammensetzung von Wohnvierteln ändert? Und wer würde diesen Prozess steuern? In der freien Marktwirtschaft regeln Angebot und Nachfrage den Mietmarkt ja von selbst.
Es gibt dazu bereits Regelungen. In München nennt es sich München Modell. Diese Wohnungen kosten mehr als Sozialwohnungen, sind aber günstiger als Wohnungen auf dem freien Mietmarkt. Um Investoren dafür zu gewinnen, setzt die Stadt München verschiedene Hebel ein, zum Beispiel vergeben sie städtische Grundstücke günstiger oder vergeben zinsgünstige Darlehen. Andere Städte haben ähnliche Ansätze, die dafür sorgen sollen, dass die Quartiere durchmischt bleiben.
Wieviel Wohnkomfort brauchen wir wirklich? Darüber lässt sich diskutieren. Man könnte sicherlich an vielen Ecken runterfahren und somit das Bauen billiger machen.
Gabriela BeckEin Problem sind aber auch die hohen Baukosten. Welche Möglichkeiten gibt es hier für Investoren, günstiger zu bauen?
Man könnte hier den Gebäudetyp E ins Spiel bringen. Er setzt auf Vereinfachung, indem er auf Ausstattungs- und Komfortstandards verzichtet, die nicht unbedingt erforderlich sind. Damit kann man Bauprojekte schneller und kostengünstiger voranbringen. Es gibt ja wahnsinnig viele Bauvorschriften. Da stellt sich die Frage: Wieviel Wohnkomfort brauchen wir wirklich? Darüber lässt sich diskutieren. Man könnte sicherlich an vielen Ecken runterfahren und somit das Bauen billiger machen.
Eine andere Möglichkeit wäre, leerstehende Büroflächen oder Kaufhäuser umzunutzen, wo es konstruktiv möglich ist. Auch bei der Nachverdichtung gibt es sehr viel Potenzial. Wenn man alle Dachgeschosse in Städten ausbauen würde, dann hätten wir kein Wohnungsproblem, sage ich mal ganz salopp.
Wie können wir die Bürger ermutigen, sich aktiv in die Gestaltung ihrer Stadt einzubringen? Haben Sie da Ideen?
Beispielsweise über Nachbarschaftsaktionen – indem man sich mal im eigenen Wohnumfeld umschaut und dort aktiv wird. Oder, wenn man sich auch politisch einbringen möchte, indem man Kontakt zu Netzwerken oder Gleichgesinnten aufnimmt.
In Berlin gibt es zum Beispiel die Gemeinschafts-Initiative "Gieß den Kiez”, bei der man sozusagen den Stadtbaum vor der Haustür adoptieren kann. In einer App gibt es eine Karte mit Stadtbäumen, für die man Patenschaften übernehmen kann, das heißt ich kümmere mich darum, dass mein ausgewählter Baum gegossen wird.
Sie sagen in Ihrem Buch, dass möglichst wenige Autos in der Stadt unterwegs sein sollten. Mit welchen Argumenten würden Sie versuchen, einen Autobesitzer davon zu überzeugen, auf sein Auto und damit auch ein Stück Freiheit zu verzichten?
Ich würde andersherum fragen: Wie kommt ihr eigentlich auf die Idee, eure persönliche Freiheit auf Kosten der Allgemeinheit in den öffentlichen Raum auszudehnen? Straßen brauchen wir, aber ich rede jetzt von Parkplätzen. 60 bis 80 Prozent des öffentlichen Raums in der Stadt ist von Straßen und Parkplätzen belegt. Die Fläche, die von Parkplätzen belegt ist, könnte man stattdessen für kleine Pocket-Parks, Gemüsebeete oder schattige Plätzchen vor den Häusern nutzen. Man könnte Bücherschränke oder Strandkörbe aufstellen. Es könnten viele schattige, begrünte Orte in der Stadt entstehen, an denen sich die Leute einfach mal hinsetzen und entspannen können.

Miniwälder für die Stadt: Das aus Japan stammende Konzept des "Tiny Forest" verspricht schnelle Erfolge im Kampf für bessere Luft, mehr Artenvielfalt und Schutz vor Unwettern im urbanen Raum. Wir zeigen die Vorteile und Auswirkungen der Mini-Wälder für Städte »
Ich bin nicht grundsätzlich gegen das Auto, aber für eine Reduzierung der Pkw in der Stadt – und für eine Demokratisierung des Verkehrs. Jeder soll jederzeit die freie Wahl des Verkehrsmittels haben. Dieses Modell kann aber nur funktionieren, wenn alternative Fortbewegungsmittel genauso bequem zu nutzen sind wie das eigene Auto. Dafür muss man den ÖPNV ausbauen – Busse und Bahn, Straßenbahn – und ganz konsequent Park & Ride an allen Endstationen der U-Bahn oder S-Bahn platzieren, um die Pendlerströme in die Stadt zu reduzieren. Dann ist auch die Parkplatzsuche nicht mehr so ein Problem.
Außerdem brauchen wir mehr Alternativangebote, beispielsweise Carsharing, Kollektivtaxis oder Ruf-Shuttles, die von Tür zu Tür fahren. Solche Angebote tragen dazu bei, dass der individuelle Verkehr in der Stadt reduziert wird, wenn sich mehrere Personen ein Auto teilen, das ansonsten 95 Prozent der Zeit ungenutzt auf seinem Parkplatz rumsteht.
Was ist mit Architekten und Stadtplanern – wie könnte die Veränderung, die Sie sich wünschen, von ihrer Seite aus angestoßen werden?
Architekten und Stadtplaner haben die urbanen Problemzonen, die ich in meinem Buch beschreibe, bereits auf dem Schirm – ob es nun ums Recycling von Baustoffen geht, um Umnutzung, gemeinschaftliche Quartiere oder Klimaanpassungsmaßnahmen. Wenn Dinge nicht umgesetzt werden, dann liegt es meist am Geld.
Ein Beispiel: Der Klimawandel. Es ist ganz klar, dass in Zukunft mehr Starkregenereignisse und längere Hitzeperioden auf uns zukommen. In der Stadt ist das noch relevanter, weil sich die Stadt durch die vielen versiegelten Flächen schneller aufheizt und die Wärme auch nachts schlecht wieder abgegeben wird. In der Innenstadt kann es in Sommernächten bis zu zehn Grad wärmer sein als im Umland. Wie muss ich mich als Stadt daran anpassen? Flächen entsiegeln, Bäume pflanzen, Verschattung installieren, Wassersammelbecken – all diese Maßnahmen kosten Geld.
Wenn man dann Investoren oder Entscheider in der Stadtpolitik davon überzeugen muss, für diese Maßnahmen Geld auszugeben, braucht man gute Argumente. Man könnte sagen: Passt mal auf, ihr müsst ehrlich bilanzieren und die Folgekosten mit einrechnen. Dann wird es plötzlich ökonomisch sinnvoll, diese Maßnahmen umzusetzen, denn wenn man sie unterlässt, wird es noch teurer: Man hat Überschwemmungen, man muss Keller auspumpen, man muss Pflanzen neu setzen, die Gesundheitskosten steigen, weil mehr Personen mit Hitzschlag ins Krankenhaus kommen und so weiter. Dann wird es plötzlich sinnvoll, neue Konzepte auszuprobieren.

Mit dem Schwammstadt-Prinzip lassen sich Städte wirksam gegen Überschwemmungen und Hochwasser schützen. Die Stadt als Schwamm − wir zeigen am Beispiel Kopenhagen, wie das funktioniert: Schwammstadt: Hochwasserschutz für Kommunen »
Von der Politik würde ich mir mehr Mut zum Experimentieren wünschen. Dass man Dinge einfach mal ausprobiert. Die Stadt als Versuchsraum, als Reallabor.
Gabriela BeckIn Ihrem Buch haben Sie Ideen für die ideale Stadt der Zukunft skizziert. Wie sähe denn ein typischer Tag in Ihrer idealen Stadt aus?
Dieses Gedankenspiel muss ich Ihnen leider nehmen, denn die ideale Stadt gibt es nicht. Jede Stadt ist anders. Was in der einen Stadt funktioniert, muss in der anderen noch lange nicht gelingen. Von der Politik würde ich mir aber mehr Mut zum Experimentieren wünschen. Dass man Dinge einfach mal ausprobiert. Die Stadt als Versuchsraum, als Reallabor.
In Kopenhagen wird das genauso gemacht. Man testet in einzelnen Stadtvierteln neue Konzepte aus, und wenn man anhand der Pilotprojekte feststellt, dass etwas funktioniert, weitet man es auf die ganze Stadt aus. Was nicht funktioniert, lässt man weg. Aktuell bauen sie ein Stadtviertel am Nordhafen um, in dem mit verschiedenen Energiegewinnungstechniken herumexperimentiert wird. Ich würde mir wünschen, dass dieses Konzept der Reallabore auch in Deutschland öfter eingesetzt wird.
Vielen Dank für das Interview!
Über das Buch "Wie wir wohnen wollen"

Wie werden unsere Städte wieder lebenswert? Wie schaffen wir lebendige Innenstädte und mehr Gemeinschaft in Wohnvierteln? Wie können Städte nachhaltiger und klimaresilienter gebaut werden? Für Gabriela Beck, die Autorin von "Wie wir leben wollen" ist klar: Das geht nur durch Beteiligung der Menschen, die darin leben. In ihrem Buch stellt sie viele konkrete Lösungsvorschläge und Ideen vor, wie wir unsere Städte lebenswerter machen können.
Gabriela Beck, Wie wir wohnen wollen. Was unsere Städte brauchen, um wieder lebenswert zu werden. Ein Bauplan für den Wandel, Kösel, 20 Euro.
Über Gabriela Beck

Gabriela Beck ist Dipl.-Ing. für Architektur mit Schwerpunkt Stadtplanung und schreibt seit vielen Jahren als Fachjournalistin zu nachhaltigem Städtebau und Zukunftstrends im Wohnwesen, u. a. für die Süddeutsche Zeitung. Sie ist zudem im Netzwerk Klimajournalisten aktiv. Als Münchnerin erlebt sie selbst die negativen Auswirkungen steigender Mieten und sich verstärkender Wohnungleichheit auf das Stadtgefüge. Langweilige Bauträgerarchitektur ist ihr darüber hinaus ein Dorn im Auge.
Wie gefällt Ihnen dieser Beitrag?

Wegweisende Nachhaltigkeitsarchitektur – unser Newsletter hält Sie up to date!
Newsletter abonnieren