Wärme aus der Tiefe: Abwasser als Energiequelle nutzen
Jeder kennt ihn. Den Spruch, dass man aus Gülle Gold machen könne. Das geht tatsächlich. Und zwar in einem Bereich, wo man am wenigsten damit rechnen würde. Das Gold der Zukunft ist Energie. Die findet sich in Form von Wärme in großen Mengen im Abwasser und verschwindet ungenutzt in Kanälen, Kloaken und Klärwerken.
Es wäre doch eine tolle Idee, die Wärme zurückzugewinnen und zu nutzen. Ein schöner Traum? Im Gegenteil! Wärmerückgewinnung aus Abwasser wurde bereits in zahlreichen Projekten umgesetzt. Wir erklären, wie es funktioniert.
Wärme aus Abwasser nutzen: Das Gold im Untergrund
128 Liter! So viel Wasser verbraucht jeder Mensch in Deutschland pro Tag. Bei rund 83 Millionen Menschen sind das also etwa 10,5 Milliarden Liter Wasser. Die Zahl ist unglaublich.
Das meiste Wasser landet nach der Nutzung mehr oder weniger verunreinigt als Abwasser in den Leitungen unserer Häuser und fließt anschließend durch die großen Abwasserkanäle der Städte. Dieses Abwasser ist wärmer als das Grundwasser – selbst im Winter beträgt die Temperatur zwischen 10 und 15 Grad. Diese Wärme verpufft ungenutzt. Hier liegt ein Energieschatz, den es zu heben gilt.
Die Challenge: Energie sammeln und verstärken
Wenn man die Wärme des Abwassers nutzen möchte, muss man zwei Probleme lösen:
- die Wärme einsammeln und diese
- bis zur gewünschten Heiztemperatur steigern.
1) Eingesammelt werden kann die Wärme an drei Punkten:
- direkt im Gebäude: Das hat den Vorteil, dass das Wasser noch warm ist und wenig Wärme verliert.
- im Abwasserkanal: Die Wärme wird direkt aus dem Kanal entnommen. Das hat den Vorteil, dass es mehr Abwasser gibt, weil der Kanal von vielen Menschen „gespeist“ wird.
- in der Kläranlage: Das Abwasser wird dabei in der Kläranlage genutzt. Das hat den Vorteil, dass es viel Abwasser gibt und immer verfügbar ist. Aber es ist eine Herausforderung, die Wärme zu den Gebäuden zu bringen, die sie nutzen sollen.
2) Für die Erhöhung der Temperatur gibt es ebenfalls bereits erprobte Lösungen: Wärmepumpen.
Die Wärme des Abwassers reicht noch nicht zum Heizen nicht aus. Ihre Energiedichte muss darum erhöht werden. Mit einer Wärmepumpe kann die Wärme aus dem Abwasser auf ein höheres Niveau gebracht werden, zum Beispiel auf 35 bis 55 Grad Celsius. Eine Wärmepumpe nutzt Wärme aus einer Quelle mit niedriger Temperatur (z. B. das Abwasser) und erhöht diese mittels eines Kompressors und elektrischer Energie.
Der notwendige Strom für die Wärmepumpe kann aus verschiedenen Quellen stammen, wie etwa dem öffentlichen Stromnetz, Photovoltaikanlagen oder Blockheizkraftwerken. Wärmepumpen sind vielseitig einsetzbar und können sowohl einzelne Gebäude als auch ganze Wärmenetze versorgen.
Der Nutzen für die Wärmewende ist immens
In Zeiten, in denen auch das Heizen mit Holz in Bezug auf die Nachhaltigkeit nicht mehr unbedenklich ist (wir berichten im eigenen Artikel), kann Wärmeenergie aus dem Abwasser ein wichtiger Baustein zur Wärmewende sein. Eine Studie der Beratungsagentur Enervis aus dem Jahr 2017 zeigt, dass Energie aus Abwasser eine klimafreundliche und wirtschaftliche Alternative zu fossilen Brennstoffen ist.
- Die Studie beziffert das Potenzial von Energie aus Abwasser in Deutschland auf rund 100 Terrawattstunden pro Jahr.
- Das entspricht etwa 14 Prozent des gesamten Wärmebedarfs im Gebäudesektor.
- Wenn bis 2030 mindestens 35 Terrawattstunden davon genutzt werden, könnten die CO2-Emissionen um 39 Millionen Tonnen gesenkt werden.
- Die Kosten für die Energiegewinnung aus Abwasser liegen je nach Rahmenbedingungen zwischen 500 und 1.000 Euro pro Kilowatt Wärmetauscherleistung. Damit ist Energie aus Abwasser günstiger als herkömmliche Heiztechnologien. So könnten 14 Milliarden Euro eingespart werden.
- Die Anlagen könnten auch zur Kühlung im Sommer eingesetzt werden.
Unbekannte Lösung mit viel Potenzial
Geothermie, also die Nutzung von Wärmeenergie aus dem Erdboden ist inzwischen vielen Menschen bekannt. Abwasser zu nutzen mutet dagegen recht exotisch an. Auch die Politik scheint sich hier noch nicht so recht auszukennen, was ein offener Brief eines Konsortiums von Technologieunternehmen an die Bundesministerin für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, Klara Geywitz (SPD) und den Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, Robert Habeck (GRÜNE) zeigt. Diese Unwissenheit soll durch Leuchtturmprojekte und die wissenschaftliche Begleitung ausgeräumt werden.
Wärmetauscher und Wärmepumpe im Doppel
Die Wärme aus dem Abwasserkanal nutzen – wie funktioniert das konkret?
Eine bereits in der Praxis bewährte Möglichkeit ist ein Wärmetauscher, der die Wärmeenergie des Kanalwassers an ein Transportmedium überträgt (zumeist ebenfalls Wasser oder ein Glycolgemisch). Dieses nimmt die Wärme auf und transportiert sie zur Wärmepumpe.
Ganz praktisch werden dabei doppelschalige Druckbehälter aus Edelstahl verwendet, die maßgefertigt in neue oder bestehende Abwasserkanäle eingelassen werden. Das Abwasser umströmt diese Behälter und überträgt seine Wärme auf das im Inneren der flachen Druckbehälter. Das so erwärmte Wasser fließt zur Wärmepumpe, welche die Temperatur weiter erhöht – bis sie zum Heizen genutzt werden kann. Sogenannte reversible Wärmepumpen können den Prozess im Sommer auch umkehren und die Gebäude kühlen.
Deutschland, dein Abwasser
Das Abwasser in Deutschland besteht hauptsächlich aus Schmutzwasser aus Haushalten und Gewerbe sowie Niederschlagswasser von Straßen und Flächen. Jedes Jahr fallen gemäß den Zahlen des Bundesumweltministeriums etwa 9,6 Milliarden Kubikmeter davon an, wobei 5,1 Milliarden Kubikmeter Schmutzwasser und 2,5 Milliarden Kubikmeter Niederschlagswasser sind.
Der Rest ist Fremdwasser, das durch unerlaubte Einleitungen oder Undichtigkeiten im Kanalnetz entsteht. Fast die gesamte Bevölkerung ist an die öffentliche Kanalisation angeschlossen, die über 540.000 Kilometer lang ist. Das Abwasser wird in rund 10.000 kommunalen Kläranlagen gereinigt, bevor es in die Gewässer eingeleitet wird. Die Abwasserbehandlung in Deutschland hat einen hohen technischen Standard und unterliegt strengen gesetzlichen Vorgaben.
Beispiele: zwei umgesetzte Projekte der Abwassernutzung
Grau ist alle Theorie. Die tatsächliche Umsetzung der Wärmenutzung aus Abwasser ist aber bereits in voller Fahrt.
Stadtteil Lagarde in Bamberg, Deutschland
Es ist eine kluge Idee, die Nutzung des Kanal-Abwassers gleich bei der Neuanlage eines Stadtteils mit einzuplanen. In Bamberg hat man das realisiert.
70 Jahre lang bildete die Lagarde-Kaserne einen Teil des Stützpunktes der US-Army in der Stadt. Auf den 20 Hektar Fläche entsteht ein komplett neuer Stadtteil für 2.400 Menschen. 2022 sind die ersten Mieter eingezogen, aber die Bauarbeiten gehen fleißig weiter. Der neue Stadtteil strotz geradezu von Superlativen – nicht nur wegen der Architektur und des Wohnkonzepts mit vielen Gemeinschaftsflächen, sondern vor allem auch wegen der nachhaltigen Energienutzung. Rund 70 Prozent der benötigten Wärme wird mit Ressourcen erzeugt, die sich direkt vor Ort befinden.
Neben der Abwasserwärme sind dies unter anderem Bodenkollektoren und Erdsonden. Strom wird über Photovoltaik und ein Blockheizkraftwerk erzeugt. Große Speicher in einer eigens gebauten Energiezentrale und eine intelligente Steuerung sorgen für die richtige Verteilung der Energie.
Im Video zeigt Projektleiter Stefan Loskarn von den Bamberger Stadtwerken, wie der vielfältige nachhaltige Energiemix im neuen Bamberger Stadtteil Lagarde zusammenspielen.
Vio Plaza in Wien, Österreich
Im Westen der österreichischen Hauptstadt Wien entsteht bis Herbst 2023 mit dem Vio Plaza ein 17-stöckiges Wohn- und Geschäftshaus mit angegliedertem Hotel. Der unmittelbar auf dem Grundstück verlaufene Kanal wird von bis zu 200.000 Haushalten „gespeist“ und liefert den künftigen Bewohnern viel Wärmeenergie – und zwar ohne lange Umwege.
Die Wärmetauscher wurden auf einer Länge von 180 Metern eingebaut. Mit dieser relativ geringen Strecke sollen dennoch 30 Prozent des Heizbedarfs des Gebäudes abgedeckt werden, der Rest kommt über die Fernwärme. Die Bauherren und Investoren sprechen stolz von einem „Meilenstein“, denn mangels Vergleichsprojekten in Österreich hat es eine Leuchtturmfunktion.
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