Cradle-to-Cradle-Architektur: Zukunftsweisende Vision oder romantische lllusion?
Vor zehn Jahren setzte das niederländische Venlo mit seinem Rathaus erstmals ein Zeichen für zukunftsfähiges Bauen und neue Denkweisen in der Architektur. Heute scheint der schöne Putz zu bröckeln: Unterschiedliche Nachhaltigkeitskonzepte und ambitionierte Klimaziele prallen auf weltpolitische Gegenströme. Bleibt die Lösungsfindung dabei auf der Strecke? Siegt die Ökonomie über die Ökologie?
10 Jahre Cradle-to-Cradle-Architektur: Die ultimative Nachhaltigkeitsvision auf dem Prüfstand.
In diesem Beitrag:
Dies ist ein (gekürzter) Beitrag aus der aktuellen Print-Ausgabe No. 7 von CRADLE.
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Die Vision von Venlo
Wer sich in Europa nach radikal zirkulärer Architektur umsieht, kommt am niederländischen Venlo nicht vorbei – und das schon seit zehn Jahren, als die schmucke niederländische Stadt an der Grenze zu Deutschland ein neues Rathaus bekommen hat. Eines, das damals international erst für Schlagzeilen sorgte, um dann weltweit Maßstäbe zu setzen. Denn das Stadskantoor Venlo wurde als erster Bau dieser Dimension nach dem Prinzip Cradle-to-Cradle (C2C) konzipiert und errichtet. Das heißt, der gesamte Prozess folgte den Gedanken der Kreislaufwirtschaft und Wiederverwendbarkeit aller Materialien. Seit seiner Eröffnung gilt das Venloer Rathaus als Blaupause in Sachen Nachhaltigkeit in der Architektur.
Cradle to Cradle als ultimatives Nachhaltigkeitskonzept
Das heute weltweit anerkannte zirkuläre Designkonzept Cradle-to-Cradle wurde bereits Ende der 1990er-Jahre vom deutschen Chemiker Michael Braungart und dem US-amerikanischen Architekten William McDonough entwickelt. Mit dem allgemeingebräuchlichen Verständnis von Kreislaufwirtschaft (reduce, reuse, recycle – reduzieren, wiederverwenden, recyclen) stimmt es nur auf den ersten Blick überein. Die Lösung liege vielmehr in rethink, redesign, reinvent – umdenken, neugestalten, neu erfinden – richtet Braungart heute allen „Nachhaltigkeitstrotteln“ (O-Ton) aus, die „das Falsche perfekt und damit perfekt falsch machen“.
Und so präzisiert er seine eigene Vision: Es brauche keine Kreislauf-, sondern vielmehr eine Nährstoffwirtschaft. „Dinge, die verschleißen, müssen biologisch nützlich sein. Nicht nur nicht giftig, sondern die kleinen Lebewesen im Meer müssen etwas zu beißen haben“, bringt Braungart sein Konzept auf den Punkt. Ziel ist es in seinen Augen, Produkte so zu gestalten, dass alle Materialien entweder biologisch abbaubar sind oder ohne Qualitätsverlust in technischen Kreisläufen wiederverwendet werden können. Anstatt Reduktion und Verzicht zu predigen, sieht Cradle-to-Cradle die Lösung in veränderten Produkten und Produktionsprozessen. Verschwendung soll folglich kein Problem mehr darstellen. „Wenn Menschen als Chance behandelt werden, benehmen sie sich auch so“, ist er überzeugt.
Dinge, die verschleißen, müssen biologisch nützlich sein. Nicht nur nicht giftig!
Michael Braungart, Mitbegründer Cradle-to-Cradle
Interview
Wir haben mit Cradle-to-Cradle-Pionier Prof. Michael Braungart über Hintergründe, Chancen und Schwierigkeiten einer natürlichen Kreislaufwirtschaft gesprochen. Was bedeutet Cradle to Cradle? Welche Chancen bietet Cradle to Cradle für unsere Zukunft? Lesen Sie hier das Interview mit Prof. Michael Braungart »
Pionierstadt Venlo
Doch zurück nach Venlo: Auch heute, ein knappes Jahrzehnt nach der Fertigstellung des Pionierprojekts, besuchen alljährlich Tausende architektur- und nachhaltigkeitsaffine Menschen die Stadt an der Maas, um sich vom dortigen Cradle-to-Cradle-Spirit inspirieren zu lassen, weiß Hans Goverde vom verantwortlichen Rotterdamer Architekturbüro Kraaijvanger Architects zu berichten.
Was sie dort sehen, ist ein Rathaus, das einem temporären Rohstofflager gleicht. Ein Materialpass dokumentiert detailliert, was verbaut ist. Die grüne Fassade schafft saubere Luft und Biodiversität, fungiert gleichzeitig als grüne Lunge und vertikaler Stadtpark. Die Luftqualität im Gebäude sei messbar besser als außerhalb, die Krankenstandsrate erfreulich niedrig, ergänzt Michael Braungart.
Die gesundheitlichen und sozialen Aspekt des Gebäudes unterstreicht auch Hans Goverde: Aufzüge seien versteckt und der Blick zu anderen Etagen hin geöffnet worden. Mehr Bewegung und Kommunikation sind die Folge. Die Voraussetzungen, unter denen sein Team in Venlo arbeiten konnte, suchen nach wie vor ihresgleichen, so Goverde: „Die Stadt hat sehr früh zirkuläre Prinzipien übernommen – auch in anderen Bereichen wie Bildung und Beschaffung. Das machte sie zu einem fantastischen Auftraggeber und ein Stück weit exotisch im Vergleich zu anderen Orten“, berichtet er.
Cradle to Cradle in den Niederlanden
Gleichwohl bekam Cradle-to-Cradle damals in den gesamten Niederlanden institutionellen Rückenwind. Das Land verordnete sich selbst eine zirkuläre Wirtschaft bis 2050. In Sachen Architektur verfügt es neben Venlo unter anderem mit dem Büro- und Gewerbeareal Park 20|20 nahe Amsterdam und dem zirkulären Restaurant- und Veranstaltungsgebäude The Green House in Utrecht über diverse bedeutende Cradle-to-Cradle-Projekte.
Warum dieser Pioniergeist? Eindrücklicher als vielerorts in der EU führen die geographischen und demographischen Gegebenheiten die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen vor Augen. „Wir leben hier mit 18 Millionen Menschen in einem wirklich sehr kleinen Land“, erklärt Architekt Goverde. Noch dazu in einem, das aufgrund seiner Lage und Geografie von ansteigenden Meeresspiegeln besonders hart betroffen wäre. Stichwort: Klimaerwärmung.
Was blieb vom Nachhaltigkeitsboom?
Doch auch wenn abseits der Niederlande Materialpässe und Cradle-to-Cradle-Ansätze inzwischen im Bauwesen angekommen sind, bekommen sie aktuell weltweit mitunter kräftigen Gegenwind.
Mit dem Ausstieg der USA aus dem Pariser Klimaabkommen und dem Backlash gegen ESG-Kriterien zur Bewertung der Nachhaltigkeit und ethischen Verantwortung von Unternehmen scheint der Fokus eher auf kurzfristigen Einsparungen als auf langfristigen Visionen zu liegen. US-Präsident Donald Trump bestritt erst vor wenigen Wochen in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung zum wiederholten Mal den menschengemachten Klimawandel. Zudem trafen in den vergangenen Jahren mutliple globale Krisen die Lieferketten. Alles Sand im Cradle-to-Cradle-Getriebe, aber gleichzeitig auch eine spannende Bewährungsprobe: Zirkuläres Bauen muss plötzlich aktiv beweisen, dass es kein „Nice to have“, sondern wirtschaftlich belastbar ist.
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