Cradle to cradle in der Praxis: 3 Fragen an Michael Braungart

Portrait Michael Braungart
Portrait Michael Braungart, Entwickler des Cradle-to-Cradle-Konzepts. Foto: Anna Bauer

In dieser Kolumne antwortet Professor Braungart auf drängende Fragen. Der Chemie- und Verfahrenstechniker (* 1959 in Schwäbisch-Gmünd) entwickelte in den 1990er-Jahren zusammen mit dem amerikanischen Architekten William McDonough (* 1951 in Tokio) das Cradle-to-Cradle-Konzept.

Gerd Pfitzenmaier
führte dieses Interviewer im Auftrag von CRADLE.

Welchen Vorteil hat ein Substanzerhalt von Bauten: Braucht es ein Abrissmoratorium, um den Verbrauch an Materialien einzudämmen?

Ganz im Gegenteil: Ich würde sogar eher eine Abrisspflicht fordern! Viele Häuser, die wir in den 1960er- und 1970er-Jahren bauten, sind echte Giftbomben. Bei ihnen haben die Bauherrn anstatt auf gutes Handwerk auf schlechte Chemie gesetzt. Das rächt sich heute. Die Räume sind nicht selten mit Asbest oder Holzschutzmitteln verseucht. Wer darin wohnt, muss meist schlechtere Luft atmen als vielerorts draußen – selbst an verkehrsreichen Straßen. Das zu ändern
wäre weit wichtiger als die Energiefrage, denn es bedroht unmittelbar unsere Gesundheit.

Die Energieoptimierung, so wichtig sie für den Klimaschutz erscheint, löst diese Probleme aber keinesfalls, sie verschärft sie meist sogar. Dämmstoffe sind in der Herstellung nämlich energieintensiv, ihre Klimaschutzbilanz würde sich also erst nach Jahren der Nutzung zum Positiven wandeln. Solche Materialfragen haben wir – leider – nie wirklich bedacht. Das führte zu den heutigen Folgeproblemen. Ein Abriss könnte also helfen, dass wir künftig in gesunden Wänden wohnen.

Wir sollten die verseuchten Gebäude jetzt gesünder machen. Nutzen wir doch die im Moment recht hohen Grundstückswerte, um damit den Austausch der Giftstoffe zu finanzieren und zugleich neue, lebensnahe Wohnformen zu entwickeln. Wir könnten die nach einem Abriss freiwerdenden Flächen endlich sinnvoller verwenden, indem wir beim Bauen mehr auf den Nutzwert der Häuser und Wohnungen achten. Heute entsprechen unsere Gebäude oft nicht den
tatsächlichen Bedürfnissen der Bewohner. Es gibt immer mehr Singlehaushalte, dafür sind viele Bestandswohnungen aber nicht gedacht. Sie sind zu groß. Wir sollten von anderen Kulturen lernen und neue Siedlungsformen anstreben, die unseren Belangen entgegenkommen. In Afrika gibt es das Sprichwort „Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen“. Unsere Art zu bauen jedoch nimmt auf derlei Bedürfnisse der Menschen genauso wenig Rücksicht wie darauf, dass wir alle Gemeinschaft brauchen – unsere Art zu bauen fördert eher die Abgrenzung von anderen.

Welche Faktoren bremsen den Wandel zu mehr Cradle to Cradle?

Gar nichts bremst den Wandel! Ich bin davon überzeugt: Noch vor 2050 wird alles Cradle to Cradle sein. Um dies umzusetzen, müssen wir nur Abschied nehmen vom derzeit so hoch gehandelten Begriff der Nachhaltigkeit. Dabei geht es den meisten Beratern nämlich nur darum, dass sie Berichte über angebliche Fortschritte in Unternehmen und Produktionsprozessen schreiben können. Sie dokumentieren, wie viel Energie sie einsparen oder wie viel Material sie recyceln. Sie wollen in Wahrheit überhaupt nichts an der Art, wie wir Dinge herstellen, ändern. Sie wollen schöne Berichte verfassen. Unsere Wirtschaftsweise jedoch ändern sie nicht wirklich. Es geht aber nicht darum, dass wir viel Falsches perfekter machen – damit nämlich machen wir am Ende nur alles perfekt falsch.

Der Drang zu mehr Nachhaltigkeit ist eine Fehlentwicklung. Genauso wie die Überzeugung falsch ist, dass wir Produkte mit einem so genannten Ökozuschlag teurer verkaufen und sie damit vergolden könnten. Wir brauchen aber keine Betrüger, wir brauchen Gestalter. Daher sollten wir viel mehr über völlig andere Geschäftsmodelle nachdenken. Wir müssen lernen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher keine Produkte besitzen müssen. Sie wollen Dienstleistung in Anspruch nehmen. Die Menschen wollen Solarstrom nutzen, keine PV-Anlagen kaufen. Die Hersteller sollten ihnen genau diese Dienstleistung anbieten, nicht die Module unterjubeln. Sie wollen eigentlich Mobilität, aber keine Autos besitzen, für die sie zahlen müssen, auch wenn sie nur in der Garage stehen. Allmählich beginnen die ersten Anbieter dies zu begreifen und bieten solche Dienstleistungen an. Die Geräte gehören dann weiter den Herstellern, die sie betreuen und so für die Funktion garantieren. Genau das suchen die Menschen.

Die Menschheit verlässt sich fast ausschließlich auf neugewonnene Rohstoffe. Mehr als 92 Prozent aller gebrauchten Stoffe gehen verloren: Ist diese Katastrophe aufzuhalten?

Vernünftiges Recycling findet bis heute – auch bei uns in Deutschland – nicht statt. Im Einigungsvertrag zwischen der BRD und der DDR von 1990 war zwar vereinbart, dass der Westen das im Osten gut funktionierende SERO-System übernehmen wolle, geschehen ist – leider – nichts.
Deshalb funktioniert das Recycling von Rohstoffen noch immer nicht wirklich.

Allenfalls können wir heute von Downcycling sprechen. Was das bedeutet, haben wir im Februar beim Erdbeben in der Türkei und in Syrien erlebt. Schon 1999 konnte ich bei einem Besuch nach dem damaligen großen Erdbeben in der Gegend feststellen, was die Ursache für den miserablen Gebäudezustand ist: massenhaft Altauto-Importe aus den USA. Die Schrottkarossen landeten in der Türkei und wurden zu Baustahl umgeschmolzen. Der aber ist minderwertig, weil er sämtliche Materialien enthält, die in einem Auto steckten. Buntmetalle im Schrott aber machen den Baustahl nicht hart, sondern spröde. Das Ergebnis sehen wir jetzt.

Auch unser Kunststoff war nie für Recycling entwickelt. In Plastik stecken viel zu viele Additive, die dem Stoff alle möglichen Eigenschaften geben. Das macht ein Recycling aber ganz und gar unmöglich. Allerdings könnte sich das ändern. Polyethylen (PET) etwa ließe sich völlig abbaubar herstellen und damit sogar kompostierfähig designen und produzieren. Ich bin der Überzeugung, dass sich solche Eigenschaften schon bald als Verkaufsargumente durchsetzen werden. Dann wird es nur noch kreislauffähiges Monomaterial geben und wir hätten endlich auch das Problem mit Mikroplastik, das weltweit Wasser, Böden und Nahrungsmittel belastet, im Griff.

Weiterlesen: Kennen Sie schon unser Print-Magazin?

Dieser Artikel ist ein Beitrag aus der zweiten Ausgabe unseres Print-Magazins CRADLE. Hier stellen wir 14 beeindruckende Projekte von passionierten Game Changern und international bedeutenden Architekten vor, die Impulse für nachhaltiges Bauen und Wohnen setzen. Francis Kéré ist ebenso dabei wie Carlo Ratti, WoHa, Space&Matter, Prof. Hans Joachim Schellnhuber und viele mehr.